Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der Herakles des Euripides. geben lassen: der gattin verwehrte die attische schicklichkeit die empfin-dungen frei zu äussern, die Megara wie gewiss unzählige frauen Athens wol im herzen hegten, aber von eigensinniger sitte darin zu verschliessen gezwungen waren. Euripides ist für attische verhältnisse an die äusserste grenze des erlaubten in der scene des wiedersehens gegangen: unsere freiere und gesundere auffassung des ehelichen verhältnisses wird dadurch nur stärker daran erinnert, dass hier ein gebiet ist, auf welchem das fünfte jahrhundert die freiheit der menschlichen empfindung noch nicht erreicht hat. Das unheil soll ganz unerwartet über Herakles hereinbrechen; so hat er es wol unterlassen um nicht den ersten teil noch mehr zu belasten und das interesse zu zerstreuen. es ist kein schade, denn seine kinder singen nicht was kindern in den betreffenden situationen zukommt, sondern was der dichter für die kinder und die situationen empfand. namentlich das lied des knaben an der leiche der mutter in der Alkestis gehört zu seinen gröbsten zeichenfehlern. vgl. zu v. 469. 45) Ich habe die erfahrung gemacht an personen, welchen der stoff ganz fremd war. das grauenvolle, plötzliche, dämonische war so überwältigend, dass vor ihm alles andere verschwand. die torheit, den wahnsinn in den titel zu setzen, hat Euripides nicht begehen können, der überhaupt keine zusätze zu dramentiteln kennt, aber auch die grammatiker haben den zusatz nicht gemacht, der in den handschriften und allen citaten fehlt. erst in der Aldina erscheint er nach dem vorbilde der tragödie des Seneca, welche die modernen gelehrten Hercules furens zur unterscheidung des H. Oetaeus so zubenannt hatten. 46) Dass Lessing in seiner jugendarbeit, der vergleichung des Seneca und
Euripides, anders urteilt, ist nicht befremdlich; er steht dort noch im banne der regeln, die er selbst später gesprengt hat. Der Herakles des Euripides. geben lassen: der gattin verwehrte die attische schicklichkeit die empfin-dungen frei zu äuſsern, die Megara wie gewiſs unzählige frauen Athens wol im herzen hegten, aber von eigensinniger sitte darin zu verschlieſsen gezwungen waren. Euripides ist für attische verhältnisse an die äuſserste grenze des erlaubten in der scene des wiedersehens gegangen: unsere freiere und gesundere auffassung des ehelichen verhältnisses wird dadurch nur stärker daran erinnert, daſs hier ein gebiet ist, auf welchem das fünfte jahrhundert die freiheit der menschlichen empfindung noch nicht erreicht hat. Das unheil soll ganz unerwartet über Herakles hereinbrechen; so hat er es wol unterlassen um nicht den ersten teil noch mehr zu belasten und das interesse zu zerstreuen. es ist kein schade, denn seine kinder singen nicht was kindern in den betreffenden situationen zukommt, sondern was der dichter für die kinder und die situationen empfand. namentlich das lied des knaben an der leiche der mutter in der Alkestis gehört zu seinen gröbsten zeichenfehlern. vgl. zu v. 469. 45) Ich habe die erfahrung gemacht an personen, welchen der stoff ganz fremd war. das grauenvolle, plötzliche, dämonische war so überwältigend, daſs vor ihm alles andere verschwand. die torheit, den wahnsinn in den titel zu setzen, hat Euripides nicht begehen können, der überhaupt keine zusätze zu dramentiteln kennt, aber auch die grammatiker haben den zusatz nicht gemacht, der in den handschriften und allen citaten fehlt. erst in der Aldina erscheint er nach dem vorbilde der tragödie des Seneca, welche die modernen gelehrten Hercules furens zur unterscheidung des H. Oetaeus so zubenannt hatten. 46) Daſs Lessing in seiner jugendarbeit, der vergleichung des Seneca und
Euripides, anders urteilt, ist nicht befremdlich; er steht dort noch im banne der regeln, die er selbst später gesprengt hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0388" n="368"/><fw place="top" type="header">Der Herakles des Euripides.</fw><lb/> geben lassen: der gattin verwehrte die attische schicklichkeit die empfin-<lb/> dungen frei zu äuſsern, die Megara wie gewiſs unzählige frauen Athens<lb/> wol im herzen hegten, aber von eigensinniger sitte darin zu verschlieſsen<lb/> gezwungen waren. Euripides ist für attische verhältnisse an die äuſserste<lb/> grenze des erlaubten in der scene des wiedersehens gegangen: unsere<lb/> freiere und gesundere auffassung des ehelichen verhältnisses wird dadurch<lb/> nur stärker daran erinnert, daſs hier ein gebiet ist, auf welchem das<lb/> fünfte jahrhundert die freiheit der menschlichen empfindung noch nicht<lb/> erreicht hat.</p><lb/> <p>Das unheil soll ganz unerwartet über Herakles hereinbrechen; so<lb/> ist denn nicht die leiseste hindeutung darauf in dem ganzen ersten teile.<lb/> die zuschauer, die noch ganz unvorbereitet waren, müssen eine erschüt-<lb/> terung erfahren haben, die durch mark und bein gieng <note place="foot" n="45)">Ich habe die erfahrung gemacht an personen, welchen der stoff ganz fremd<lb/> war. das grauenvolle, plötzliche, dämonische war so überwältigend, daſs vor ihm<lb/> alles andere verschwand. die torheit, den wahnsinn in den titel zu setzen, hat<lb/> Euripides nicht begehen können, der überhaupt keine zusätze zu dramentiteln kennt,<lb/> aber auch die grammatiker haben den zusatz nicht gemacht, der in den handschriften<lb/> und allen citaten fehlt. erst in der Aldina erscheint er nach dem vorbilde der tragödie<lb/> des Seneca, welche die modernen gelehrten <hi rendition="#i">Hercules furens</hi> zur unterscheidung des<lb/><hi rendition="#i">H. Oetaeus</hi> so zubenannt hatten.</note>, und dem<lb/> theaterdichter sollte man den erreichten effect zu gute halten, auch wenn<lb/> er wirklich sein drama nicht zur wahren einheit herausgearbeitet hätte.<lb/> man vergleiche doch bei Seneca die wirkung des prologes, welcher die<lb/> zukunft enthüllt <note place="foot" n="46)">Daſs Lessing in seiner jugendarbeit, der vergleichung des Seneca und<lb/> Euripides, anders urteilt, ist nicht befremdlich; er steht dort noch im banne der<lb/> regeln, die er selbst später gesprengt hat.</note>: da ist das interesse des lesers an der rettung der<lb/> kinder in wahrheit vorab vernichtet, denn, wenn sie doch fallen müssen,<lb/> möchte er ihnen höchstens den tod von vatershand ersparen. für Euri-<lb/> pides erwuchs aber allerdings die notwendigkeit, gewissermaſsen von<lb/> neuem anzuheben, einen zweiten prolog zu schreiben. er exponirt das<lb/> folgende durch die einführung von Iris und Lyssa. scharf gliedert er<lb/> durch den wechsel des versmaſses diese scene. denn Lyssa, der wahn-<lb/> sinn, ist, so lange ruhig geredet wird, eine göttin wie andere: ihre<lb/> trochäen aber zeigen sie am werke, sie dienen bereits der aufgabe, den<lb/><note xml:id="note-0388" prev="#note-0387" place="foot" n="44)">hat er es wol unterlassen um nicht den ersten teil noch mehr zu belasten und das<lb/> interesse zu zerstreuen. es ist kein schade, denn seine kinder singen nicht was<lb/> kindern in den betreffenden situationen zukommt, sondern was der dichter für die<lb/> kinder und die situationen empfand. namentlich das lied des knaben an der leiche<lb/> der mutter in der Alkestis gehört zu seinen gröbsten zeichenfehlern. vgl. zu v. 469.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [368/0388]
Der Herakles des Euripides.
geben lassen: der gattin verwehrte die attische schicklichkeit die empfin-
dungen frei zu äuſsern, die Megara wie gewiſs unzählige frauen Athens
wol im herzen hegten, aber von eigensinniger sitte darin zu verschlieſsen
gezwungen waren. Euripides ist für attische verhältnisse an die äuſserste
grenze des erlaubten in der scene des wiedersehens gegangen: unsere
freiere und gesundere auffassung des ehelichen verhältnisses wird dadurch
nur stärker daran erinnert, daſs hier ein gebiet ist, auf welchem das
fünfte jahrhundert die freiheit der menschlichen empfindung noch nicht
erreicht hat.
Das unheil soll ganz unerwartet über Herakles hereinbrechen; so
ist denn nicht die leiseste hindeutung darauf in dem ganzen ersten teile.
die zuschauer, die noch ganz unvorbereitet waren, müssen eine erschüt-
terung erfahren haben, die durch mark und bein gieng 45), und dem
theaterdichter sollte man den erreichten effect zu gute halten, auch wenn
er wirklich sein drama nicht zur wahren einheit herausgearbeitet hätte.
man vergleiche doch bei Seneca die wirkung des prologes, welcher die
zukunft enthüllt 46): da ist das interesse des lesers an der rettung der
kinder in wahrheit vorab vernichtet, denn, wenn sie doch fallen müssen,
möchte er ihnen höchstens den tod von vatershand ersparen. für Euri-
pides erwuchs aber allerdings die notwendigkeit, gewissermaſsen von
neuem anzuheben, einen zweiten prolog zu schreiben. er exponirt das
folgende durch die einführung von Iris und Lyssa. scharf gliedert er
durch den wechsel des versmaſses diese scene. denn Lyssa, der wahn-
sinn, ist, so lange ruhig geredet wird, eine göttin wie andere: ihre
trochäen aber zeigen sie am werke, sie dienen bereits der aufgabe, den
44)
45) Ich habe die erfahrung gemacht an personen, welchen der stoff ganz fremd
war. das grauenvolle, plötzliche, dämonische war so überwältigend, daſs vor ihm
alles andere verschwand. die torheit, den wahnsinn in den titel zu setzen, hat
Euripides nicht begehen können, der überhaupt keine zusätze zu dramentiteln kennt,
aber auch die grammatiker haben den zusatz nicht gemacht, der in den handschriften
und allen citaten fehlt. erst in der Aldina erscheint er nach dem vorbilde der tragödie
des Seneca, welche die modernen gelehrten Hercules furens zur unterscheidung des
H. Oetaeus so zubenannt hatten.
46) Daſs Lessing in seiner jugendarbeit, der vergleichung des Seneca und
Euripides, anders urteilt, ist nicht befremdlich; er steht dort noch im banne der
regeln, die er selbst später gesprengt hat.
44) hat er es wol unterlassen um nicht den ersten teil noch mehr zu belasten und das
interesse zu zerstreuen. es ist kein schade, denn seine kinder singen nicht was
kindern in den betreffenden situationen zukommt, sondern was der dichter für die
kinder und die situationen empfand. namentlich das lied des knaben an der leiche
der mutter in der Alkestis gehört zu seinen gröbsten zeichenfehlern. vgl. zu v. 469.
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