Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Herakles des Euripides.
wollte, an die grenze des erlaubten gehen und alle mittel ihrer macht
aufbieten. es kommt aber mehr hinzu. der dichter operirt hier mit
all dem reichtum mythischer bilder, welche seiner zeit zur verfügung
standen: das ist dem modernen fremdartig, doch ist das mit fleiss und
folgsamkeit der phantasie wol zu ergänzen. etwas ganz eigenartiges
dagegen ist die darstellung des wahnsinns nicht nur, sondern auch des
grausenhaften verbrechens, ohne dass doch das geschehende geschaut
wird: die wirkung auf die seele ohne wirkung auf das auge. den wahn-
sinnigen selbst einzuführen würde Euripides nicht gescheut haben: dass
er es konnte, zeigt sein Pentheus. aber die blutigen verbrechen vertrug
das feingefühl des volkes nicht, das nun einmal rohheiten, wie sie Shake-
speares tragödien entstellen und ohne das attische vorbild auch die heutige
bühne beherrschen würden, schlechthin ablehnte; vielleicht nur weil es
das spiel zu ernsthaft nahm. vielleicht aber waren vielmehr seine dichter
so weise, einzusehen, dass sie so die seele viel tiefer erschüttern könnten.
dass dem so ist, beweist wieder am besten Seneca, der wieder den fehler
des vorbildes hat verbessern wollen, übrigens einige entschuldigung hat,
da er ja nur für die recitation dichtet. das stand also für Euripides von
vorn herein fest, dass er die kinder nicht auf der bühne umbringen lassen
konnte. die herkömmliche poetische technik bot ihm als ersatz sowol
den botenbericht wie das ekkyklema, welches die unmittelbar auf die
katastrophe folgende situation zu zeigen ermöglichte. er konnte also in
einem doppelten reflexe die tat veranschaulichen, durch die epische er-
zählung, welche wesentlich ohne trübung durch das medium eines be-
richterstatters wirkt, und durch die lyrische beleuchtung seitens der
beteiligten nach der tat, also die mitteilung der frischen teilnehmenden
empfindung an den zuschauer. von beidem hat Euripides gebrauch ge-
macht, beide teile mit grosser liebe ausgearbeitet, im botenbericht mit
dem epos ausdrücklich fast rivalisirend, die folgende gesangnummer mit
allen mitteln der neuen ausdrucksfähigen musik ausstattend. aber das
hat ihm nicht genügt. er hat in der person Lyssas die mythische ver-
sinnlichung des psychischen affectes zur einleitung verwandt, und er hat
die sonst häufig und auch von ihm für den tod des Lykos schon ver-
wandte sitte, einzelne rufe hinter der bühne ertönen und von dem chore
gedeutet werden zu lassen, in einziger art erweitert und gesteigert, einmal
dadurch, dass sie die einzelnen acte der drinnen vorgehenden handlung
hervorheben, zum anderen dadurch, dass die rufe selbst nichts tatsäch-
liches melden, sondern der chor in visionärer erleuchtung die erläuterung
gibt, so dass der zuschauer, ohne sich davon rechenschaft geben zu können,

Der Herakles des Euripides.
wollte, an die grenze des erlaubten gehen und alle mittel ihrer macht
aufbieten. es kommt aber mehr hinzu. der dichter operirt hier mit
all dem reichtum mythischer bilder, welche seiner zeit zur verfügung
standen: das ist dem modernen fremdartig, doch ist das mit fleiſs und
folgsamkeit der phantasie wol zu ergänzen. etwas ganz eigenartiges
dagegen ist die darstellung des wahnsinns nicht nur, sondern auch des
grausenhaften verbrechens, ohne daſs doch das geschehende geschaut
wird: die wirkung auf die seele ohne wirkung auf das auge. den wahn-
sinnigen selbst einzuführen würde Euripides nicht gescheut haben: daſs
er es konnte, zeigt sein Pentheus. aber die blutigen verbrechen vertrug
das feingefühl des volkes nicht, das nun einmal rohheiten, wie sie Shake-
speares tragödien entstellen und ohne das attische vorbild auch die heutige
bühne beherrschen würden, schlechthin ablehnte; vielleicht nur weil es
das spiel zu ernsthaft nahm. vielleicht aber waren vielmehr seine dichter
so weise, einzusehen, daſs sie so die seele viel tiefer erschüttern könnten.
daſs dem so ist, beweist wieder am besten Seneca, der wieder den fehler
des vorbildes hat verbessern wollen, übrigens einige entschuldigung hat,
da er ja nur für die recitation dichtet. das stand also für Euripides von
vorn herein fest, daſs er die kinder nicht auf der bühne umbringen lassen
konnte. die herkömmliche poetische technik bot ihm als ersatz sowol
den botenbericht wie das ekkyklema, welches die unmittelbar auf die
katastrophe folgende situation zu zeigen ermöglichte. er konnte also in
einem doppelten reflexe die tat veranschaulichen, durch die epische er-
zählung, welche wesentlich ohne trübung durch das medium eines be-
richterstatters wirkt, und durch die lyrische beleuchtung seitens der
beteiligten nach der tat, also die mitteilung der frischen teilnehmenden
empfindung an den zuschauer. von beidem hat Euripides gebrauch ge-
macht, beide teile mit groſser liebe ausgearbeitet, im botenbericht mit
dem epos ausdrücklich fast rivalisirend, die folgende gesangnummer mit
allen mitteln der neuen ausdrucksfähigen musik ausstattend. aber das
hat ihm nicht genügt. er hat in der person Lyssas die mythische ver-
sinnlichung des psychischen affectes zur einleitung verwandt, und er hat
die sonst häufig und auch von ihm für den tod des Lykos schon ver-
wandte sitte, einzelne rufe hinter der bühne ertönen und von dem chore
gedeutet werden zu lassen, in einziger art erweitert und gesteigert, einmal
dadurch, daſs sie die einzelnen acte der drinnen vorgehenden handlung
hervorheben, zum anderen dadurch, daſs die rufe selbst nichts tatsäch-
liches melden, sondern der chor in visionärer erleuchtung die erläuterung
gibt, so daſs der zuschauer, ohne sich davon rechenschaft geben zu können,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0392" n="372"/><fw place="top" type="header">Der Herakles des Euripides.</fw><lb/>
wollte, an die grenze des erlaubten gehen und alle mittel ihrer macht<lb/>
aufbieten. es kommt aber mehr hinzu. der dichter operirt hier mit<lb/>
all dem reichtum mythischer bilder, welche seiner zeit zur verfügung<lb/>
standen: das ist dem modernen fremdartig, doch ist das mit flei&#x017F;s und<lb/>
folgsamkeit der phantasie wol zu ergänzen. etwas ganz eigenartiges<lb/>
dagegen ist die darstellung des wahnsinns nicht nur, sondern auch des<lb/>
grausenhaften verbrechens, ohne da&#x017F;s doch das geschehende geschaut<lb/>
wird: die wirkung auf die seele ohne wirkung auf das auge. den wahn-<lb/>
sinnigen selbst einzuführen würde Euripides nicht gescheut haben: da&#x017F;s<lb/>
er es konnte, zeigt sein Pentheus. aber die blutigen verbrechen vertrug<lb/>
das feingefühl des volkes nicht, das nun einmal rohheiten, wie sie Shake-<lb/>
speares tragödien entstellen und ohne das attische vorbild auch die heutige<lb/>
bühne beherrschen würden, schlechthin ablehnte; vielleicht nur weil es<lb/>
das spiel zu ernsthaft nahm. vielleicht aber waren vielmehr seine dichter<lb/>
so weise, einzusehen, da&#x017F;s sie so die seele viel tiefer erschüttern könnten.<lb/>
da&#x017F;s dem so ist, beweist wieder am besten Seneca, der wieder den fehler<lb/>
des vorbildes hat verbessern wollen, übrigens einige entschuldigung hat,<lb/>
da er ja nur für die recitation dichtet. das stand also für Euripides von<lb/>
vorn herein fest, da&#x017F;s er die kinder nicht auf der bühne umbringen lassen<lb/>
konnte. die herkömmliche poetische technik bot ihm als ersatz sowol<lb/>
den botenbericht wie das ekkyklema, welches die unmittelbar auf die<lb/>
katastrophe folgende situation zu zeigen ermöglichte. er konnte also in<lb/>
einem doppelten reflexe die tat veranschaulichen, durch die epische er-<lb/>
zählung, welche wesentlich ohne trübung durch das medium eines be-<lb/>
richterstatters wirkt, und durch die lyrische beleuchtung seitens der<lb/>
beteiligten nach der tat, also die mitteilung der frischen teilnehmenden<lb/>
empfindung an den zuschauer. von beidem hat Euripides gebrauch ge-<lb/>
macht, beide teile mit gro&#x017F;ser liebe ausgearbeitet, im botenbericht mit<lb/>
dem epos ausdrücklich fast rivalisirend, die folgende gesangnummer mit<lb/>
allen mitteln der neuen ausdrucksfähigen musik ausstattend. aber das<lb/>
hat ihm nicht genügt. er hat in der person Lyssas die mythische ver-<lb/>
sinnlichung des psychischen affectes zur einleitung verwandt, und er hat<lb/>
die sonst häufig und auch von ihm für den tod des Lykos schon ver-<lb/>
wandte sitte, einzelne rufe hinter der bühne ertönen und von dem chore<lb/>
gedeutet werden zu lassen, in einziger art erweitert und gesteigert, einmal<lb/>
dadurch, da&#x017F;s sie die einzelnen acte der drinnen vorgehenden handlung<lb/>
hervorheben, zum anderen dadurch, da&#x017F;s die rufe selbst nichts tatsäch-<lb/>
liches melden, sondern der chor in visionärer erleuchtung die erläuterung<lb/>
gibt, so da&#x017F;s der zuschauer, ohne sich davon rechenschaft geben zu können,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[372/0392] Der Herakles des Euripides. wollte, an die grenze des erlaubten gehen und alle mittel ihrer macht aufbieten. es kommt aber mehr hinzu. der dichter operirt hier mit all dem reichtum mythischer bilder, welche seiner zeit zur verfügung standen: das ist dem modernen fremdartig, doch ist das mit fleiſs und folgsamkeit der phantasie wol zu ergänzen. etwas ganz eigenartiges dagegen ist die darstellung des wahnsinns nicht nur, sondern auch des grausenhaften verbrechens, ohne daſs doch das geschehende geschaut wird: die wirkung auf die seele ohne wirkung auf das auge. den wahn- sinnigen selbst einzuführen würde Euripides nicht gescheut haben: daſs er es konnte, zeigt sein Pentheus. aber die blutigen verbrechen vertrug das feingefühl des volkes nicht, das nun einmal rohheiten, wie sie Shake- speares tragödien entstellen und ohne das attische vorbild auch die heutige bühne beherrschen würden, schlechthin ablehnte; vielleicht nur weil es das spiel zu ernsthaft nahm. vielleicht aber waren vielmehr seine dichter so weise, einzusehen, daſs sie so die seele viel tiefer erschüttern könnten. daſs dem so ist, beweist wieder am besten Seneca, der wieder den fehler des vorbildes hat verbessern wollen, übrigens einige entschuldigung hat, da er ja nur für die recitation dichtet. das stand also für Euripides von vorn herein fest, daſs er die kinder nicht auf der bühne umbringen lassen konnte. die herkömmliche poetische technik bot ihm als ersatz sowol den botenbericht wie das ekkyklema, welches die unmittelbar auf die katastrophe folgende situation zu zeigen ermöglichte. er konnte also in einem doppelten reflexe die tat veranschaulichen, durch die epische er- zählung, welche wesentlich ohne trübung durch das medium eines be- richterstatters wirkt, und durch die lyrische beleuchtung seitens der beteiligten nach der tat, also die mitteilung der frischen teilnehmenden empfindung an den zuschauer. von beidem hat Euripides gebrauch ge- macht, beide teile mit groſser liebe ausgearbeitet, im botenbericht mit dem epos ausdrücklich fast rivalisirend, die folgende gesangnummer mit allen mitteln der neuen ausdrucksfähigen musik ausstattend. aber das hat ihm nicht genügt. er hat in der person Lyssas die mythische ver- sinnlichung des psychischen affectes zur einleitung verwandt, und er hat die sonst häufig und auch von ihm für den tod des Lykos schon ver- wandte sitte, einzelne rufe hinter der bühne ertönen und von dem chore gedeutet werden zu lassen, in einziger art erweitert und gesteigert, einmal dadurch, daſs sie die einzelnen acte der drinnen vorgehenden handlung hervorheben, zum anderen dadurch, daſs die rufe selbst nichts tatsäch- liches melden, sondern der chor in visionärer erleuchtung die erläuterung gibt, so daſs der zuschauer, ohne sich davon rechenschaft geben zu können,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/392
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/392>, abgerufen am 22.11.2024.