Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Aufbau des dramas. gehalt des dramas. als genügend, ja nicht mehr als sittlich gelten lassen können. der glaubean den eingebornen menschenadel, der aus eigener kraft das gute kann, sich mit eigener faust den himmel erstreitet, der glaube an die menschliche autarkeia ist überwunden. der mensch ist schwach, glaubt Euripides, er weiss nicht das gute, und wenn er's weiss, wird des fleisches schwäche ihn das gute nicht vollbringen lassen. und die Heraklessage zeigt den menschen vollends nur als den mann der tat, der gewaltsamen blutigen: Euripides kennt eine höhere sittlichkeit, und er weiss, dass die dorische mannestugend, die areta und eugeneia des thrasumekhanos an sie nicht heranreicht. Euripides weiss, misei o theos ten bian: gewalt wird frieden nicht schaffen, am wenigsten im eigenen herzen. er nimmt deshalb die ganze grösse des Herakles der sage nur auf, um ihre unzulänglichkeit zu zeigen, den allsieger selbst zu einem bilde der menschlichen sünd- haftigkeit und schwäche zu machen. dazu schien ihm die an sich so unwesentliche geschichte vom kindermorde eine handhabe zu bieten. aber er hat sie nicht nur äusserlich zu einem exempel benutzt, er hat vielmehr selbst die schickung Heras, die eine begründung des wahn- sinns gewesen war, um Herakles die verantwortung für die bluttat zu nehmen, zu einem äusserlichen mittel der veranschaulichung gemacht: die tat aber ist eine folge der herakleischen eignen natur geworden. das dorische mannesideal beruht auf einer ungeheuren überschätzung der menschengrösse: die führt nicht in den himmel, die führt zum grössen- wahnsinn. Von diesem augenpunkte aus versteht man erst die neuerung des Aufbau des dramas. gehalt des dramas. als genügend, ja nicht mehr als sittlich gelten lassen können. der glaubean den eingebornen menschenadel, der aus eigener kraft das gute kann, sich mit eigener faust den himmel erstreitet, der glaube an die menschliche αὐτάρκεια ist überwunden. der mensch ist schwach, glaubt Euripides, er weiſs nicht das gute, und wenn er’s weiſs, wird des fleisches schwäche ihn das gute nicht vollbringen lassen. und die Heraklessage zeigt den menschen vollends nur als den mann der tat, der gewaltsamen blutigen: Euripides kennt eine höhere sittlichkeit, und er weiſs, daſs die dorische mannestugend, die ἀρετά und εὐγένεια des ϑρασυμήχανος an sie nicht heranreicht. Euripides weiſs, μισεῖ ὁ ϑεὸς τὴν βίαν: gewalt wird frieden nicht schaffen, am wenigsten im eigenen herzen. er nimmt deshalb die ganze gröſse des Herakles der sage nur auf, um ihre unzulänglichkeit zu zeigen, den allsieger selbst zu einem bilde der menschlichen sünd- haftigkeit und schwäche zu machen. dazu schien ihm die an sich so unwesentliche geschichte vom kindermorde eine handhabe zu bieten. aber er hat sie nicht nur äuſserlich zu einem exempel benutzt, er hat vielmehr selbst die schickung Heras, die eine begründung des wahn- sinns gewesen war, um Herakles die verantwortung für die bluttat zu nehmen, zu einem äuſserlichen mittel der veranschaulichung gemacht: die tat aber ist eine folge der herakleischen eignen natur geworden. das dorische mannesideal beruht auf einer ungeheuren überschätzung der menschengröſse: die führt nicht in den himmel, die führt zum gröſsen- wahnsinn. 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Aufbau des dramas. gehalt des dramas.
als genügend, ja nicht mehr als sittlich gelten lassen können. der glaube
an den eingebornen menschenadel, der aus eigener kraft das gute kann,
sich mit eigener faust den himmel erstreitet, der glaube an die menschliche
αὐτάρκεια ist überwunden. der mensch ist schwach, glaubt Euripides,
er weiſs nicht das gute, und wenn er’s weiſs, wird des fleisches schwäche
ihn das gute nicht vollbringen lassen. und die Heraklessage zeigt den
menschen vollends nur als den mann der tat, der gewaltsamen blutigen:
Euripides kennt eine höhere sittlichkeit, und er weiſs, daſs die dorische
mannestugend, die ἀρετά und εὐγένεια des ϑρασυμήχανος an sie nicht
heranreicht. Euripides weiſs, μισεῖ ὁ ϑεὸς τὴν βίαν: gewalt wird frieden
nicht schaffen, am wenigsten im eigenen herzen. er nimmt deshalb die
ganze gröſse des Herakles der sage nur auf, um ihre unzulänglichkeit
zu zeigen, den allsieger selbst zu einem bilde der menschlichen sünd-
haftigkeit und schwäche zu machen. dazu schien ihm die an sich so
unwesentliche geschichte vom kindermorde eine handhabe zu bieten.
aber er hat sie nicht nur äuſserlich zu einem exempel benutzt, er hat
vielmehr selbst die schickung Heras, die eine begründung des wahn-
sinns gewesen war, um Herakles die verantwortung für die bluttat zu
nehmen, zu einem äuſserlichen mittel der veranschaulichung gemacht: die
tat aber ist eine folge der herakleischen eignen natur geworden. das
dorische mannesideal beruht auf einer ungeheuren überschätzung der
menschengröſse: die führt nicht in den himmel, die führt zum gröſsen-
wahnsinn.
Von diesem augenpunkte aus versteht man erst die neuerung des
Euripides, daſs Herakles seine kinder erschlägt, gerade als seine lebens-
aufgabe erfüllt ist, oder wie Herakles selbst es bitter bezeichnet, daſs
diese tat sein dreizehnter ἆϑλος ist. die tiefste erniedrigung ist an die
stelle der verklärung getreten, mit welcher der dodekathlos schloſs. trotz
der verzerrenden ausführung muſs man Seneca zugestehen, daſs er für
die tendenz der euripideischen dichtung die richtige empfindung gehabt
hat, wenn er seine Iuno fürchten läſst, daſs Herakles seiner dienstbarkeit
ledig gott wird werden wollen. auch Euripides stellt uns sinnfällig die
frage, was wird der καλλίνικος tun, wenn er nichts mehr zu bezwingen
hat. so lange ihn die aufgabe seines lebens von arbeit zu arbeit rief, blieb
er sittlich, hielten ihn die schranken der menschheit. jetzt gibt es nichts
mehr zu bezwingen, jetzt ist er frei. wie wird er die freiheit benutzen?
wir sehen es. die welt hat er überwunden: nur einer ist noch übrig,
er selbst: dem erliegt er. da er sich von dem letzten gerecht vergossenen
blute reinigen will, schrickt er zurück. der blutdunst, in dem er sein
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