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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.

Schopenhauer hat ja wol in der tragödie die predigt des pessimismus
gehört, unfähig, wie die philosophen meistens sind, zu würdigen, dass
die poesie und zumal ihre älteste und machtvollste erscheinungsform, die
sage, ein vollbild der in einer bestimmten zeit und cultur vorhandenen
stimmungen und weltanschauungen gibt, also jederzeit optimistisch und
pessimistisch zugleich ist. aber der Herakles des Euripides in dieser seiner
letzten und bedeutsamsten rede ist allerdings eine erschütternde predigt
von menschenschwäche und weltelend. sehr verbreitet und eben wieder
aus der wurzel philosophischer abstraction erwachsen ist das bestreben,
eine jede tragödie auf die formel einer 'grundidee' zurückzuführen. das
ist nun wol nichts als eine der formen des verderblichen irrtums das
fabula docet für älter als die fabel zu halten, des irrtums, die sage zu
vergessen, im drama speciell irgend einer toten formel nachzujagen, statt
in der handlung, dem muthos, die hauptsache zu sehen, und in der drama-
tisirung eines muthos die tätigkeit des dichters zu begreifen. und vor
diesem irrtum sollte doch wahrlich Aristoteles jeden bewahren. aber es
könnte allerdings verführerisch sein, in dieser pessimistischen rede die
tendenz des Euripides offenbart zu sehen; ein anderer möchte geneigt
sein, die sprüche von der freundschaft gewissermassen als leitmotiv zu
verfolgen. vor allen solchen misgriffen bewahrt, abgesehen davon, dass
keine einzelne solche formel die tiefe des ganzen dramas erschöpft, die
erkenntnis, dass die sage und der dichter als individuum in seinem ver-
hältnis zu ihr, wie er ihr folgt und von ihr abweicht, das verständnis
erst aller einzelnheiten, dann des ganzen liefert. das ist freilich schwerer
zu erlangen, als wenn man sich eine formel aus dem vorliegenden drama
destillirt. und es wird sich in einem kurzen schlagwort nicht zusammen-
fassen lassen. die Heraklessage hat Euripides in sich aufgenommen, sie
hat er aus seinem geiste neugeboren, nicht die vereinzelte geschichte vom
kindermorde, sondern den innersten gehalt der ganzen sage. mit gewalt-
tätiger, man mag sagen, pietätloser hand hat er zerschlagen, was seiner
weltanschauung nicht genügte, in anderem wieder ist die sage stärker

um was? um elende selbsterhaltung in einem genuss- und freudeleeren dasein.
hundertmal habe ich nun schon erfahren, dass es grösser ist zu leben als zu sterben.
jeder elende hund kann sterben. aber wenn hernach der teufel -- oder wer ist
der schadenfrohe zähnefletschende geist in uns, der so einzusprechen pflegt? -- wenn
der fragt, was ist dir nun die grösse? bist du nicht ein eitler narr, dich für besser
als andere zu halten? o mein gott, da versink' ich in meinem staub, nehme meine
bürde auf mich und denke nichts mehr als: du musst, bis du nicht mehr kannst.
dann hat's von selbst ein ende." sechs wochen darauf ist Forster gestorben. (Iulian
Schmidt gesch. d. deutschen litt. III 217.)
Der Herakles des Euripides.

Schopenhauer hat ja wol in der tragödie die predigt des pessimismus
gehört, unfähig, wie die philosophen meistens sind, zu würdigen, daſs
die poesie und zumal ihre älteste und machtvollste erscheinungsform, die
sage, ein vollbild der in einer bestimmten zeit und cultur vorhandenen
stimmungen und weltanschauungen gibt, also jederzeit optimistisch und
pessimistisch zugleich ist. aber der Herakles des Euripides in dieser seiner
letzten und bedeutsamsten rede ist allerdings eine erschütternde predigt
von menschenschwäche und weltelend. sehr verbreitet und eben wieder
aus der wurzel philosophischer abstraction erwachsen ist das bestreben,
eine jede tragödie auf die formel einer ‘grundidee’ zurückzuführen. das
ist nun wol nichts als eine der formen des verderblichen irrtums das
fabula docet für älter als die fabel zu halten, des irrtums, die sage zu
vergessen, im drama speciell irgend einer toten formel nachzujagen, statt
in der handlung, dem μῦϑος, die hauptsache zu sehen, und in der drama-
tisirung eines μῦϑος die tätigkeit des dichters zu begreifen. und vor
diesem irrtum sollte doch wahrlich Aristoteles jeden bewahren. aber es
könnte allerdings verführerisch sein, in dieser pessimistischen rede die
tendenz des Euripides offenbart zu sehen; ein anderer möchte geneigt
sein, die sprüche von der freundschaft gewissermaſsen als leitmotiv zu
verfolgen. vor allen solchen misgriffen bewahrt, abgesehen davon, daſs
keine einzelne solche formel die tiefe des ganzen dramas erschöpft, die
erkenntnis, daſs die sage und der dichter als individuum in seinem ver-
hältnis zu ihr, wie er ihr folgt und von ihr abweicht, das verständnis
erst aller einzelnheiten, dann des ganzen liefert. das ist freilich schwerer
zu erlangen, als wenn man sich eine formel aus dem vorliegenden drama
destillirt. und es wird sich in einem kurzen schlagwort nicht zusammen-
fassen lassen. die Heraklessage hat Euripides in sich aufgenommen, sie
hat er aus seinem geiste neugeboren, nicht die vereinzelte geschichte vom
kindermorde, sondern den innersten gehalt der ganzen sage. mit gewalt-
tätiger, man mag sagen, pietätloser hand hat er zerschlagen, was seiner
weltanschauung nicht genügte, in anderem wieder ist die sage stärker

um was? um elende selbsterhaltung in einem genuſs- und freudeleeren dasein.
hundertmal habe ich nun schon erfahren, daſs es gröſser ist zu leben als zu sterben.
jeder elende hund kann sterben. aber wenn hernach der teufel — oder wer ist
der schadenfrohe zähnefletschende geist in uns, der so einzusprechen pflegt? — wenn
der fragt, was ist dir nun die gröſse? bist du nicht ein eitler narr, dich für besser
als andere zu halten? o mein gott, da versink’ ich in meinem staub, nehme meine
bürde auf mich und denke nichts mehr als: du muſst, bis du nicht mehr kannst.
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Schmidt gesch. d. deutschen litt. III 217.)
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[378/0398] Der Herakles des Euripides. Schopenhauer hat ja wol in der tragödie die predigt des pessimismus gehört, unfähig, wie die philosophen meistens sind, zu würdigen, daſs die poesie und zumal ihre älteste und machtvollste erscheinungsform, die sage, ein vollbild der in einer bestimmten zeit und cultur vorhandenen stimmungen und weltanschauungen gibt, also jederzeit optimistisch und pessimistisch zugleich ist. aber der Herakles des Euripides in dieser seiner letzten und bedeutsamsten rede ist allerdings eine erschütternde predigt von menschenschwäche und weltelend. sehr verbreitet und eben wieder aus der wurzel philosophischer abstraction erwachsen ist das bestreben, eine jede tragödie auf die formel einer ‘grundidee’ zurückzuführen. das ist nun wol nichts als eine der formen des verderblichen irrtums das fabula docet für älter als die fabel zu halten, des irrtums, die sage zu vergessen, im drama speciell irgend einer toten formel nachzujagen, statt in der handlung, dem μῦϑος, die hauptsache zu sehen, und in der drama- tisirung eines μῦϑος die tätigkeit des dichters zu begreifen. und vor diesem irrtum sollte doch wahrlich Aristoteles jeden bewahren. aber es könnte allerdings verführerisch sein, in dieser pessimistischen rede die tendenz des Euripides offenbart zu sehen; ein anderer möchte geneigt sein, die sprüche von der freundschaft gewissermaſsen als leitmotiv zu verfolgen. vor allen solchen misgriffen bewahrt, abgesehen davon, daſs keine einzelne solche formel die tiefe des ganzen dramas erschöpft, die erkenntnis, daſs die sage und der dichter als individuum in seinem ver- hältnis zu ihr, wie er ihr folgt und von ihr abweicht, das verständnis erst aller einzelnheiten, dann des ganzen liefert. das ist freilich schwerer zu erlangen, als wenn man sich eine formel aus dem vorliegenden drama destillirt. und es wird sich in einem kurzen schlagwort nicht zusammen- fassen lassen. die Heraklessage hat Euripides in sich aufgenommen, sie hat er aus seinem geiste neugeboren, nicht die vereinzelte geschichte vom kindermorde, sondern den innersten gehalt der ganzen sage. mit gewalt- tätiger, man mag sagen, pietätloser hand hat er zerschlagen, was seiner weltanschauung nicht genügte, in anderem wieder ist die sage stärker 53 a) 53 a) um was? um elende selbsterhaltung in einem genuſs- und freudeleeren dasein. hundertmal habe ich nun schon erfahren, daſs es gröſser ist zu leben als zu sterben. jeder elende hund kann sterben. aber wenn hernach der teufel — oder wer ist der schadenfrohe zähnefletschende geist in uns, der so einzusprechen pflegt? — wenn der fragt, was ist dir nun die gröſse? bist du nicht ein eitler narr, dich für besser als andere zu halten? o mein gott, da versink’ ich in meinem staub, nehme meine bürde auf mich und denke nichts mehr als: du muſst, bis du nicht mehr kannst. dann hat’s von selbst ein ende.” sechs wochen darauf ist Forster gestorben. (Iulian Schmidt gesch. d. deutschen litt. III 217.)

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/398>, abgerufen am 22.11.2024.