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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die chorische lyrik.
wunden, und zuerst ist diese poesie untergegangen. dass es die mate-
rielle kraft nicht gewann, auch die politische herrschaft durchzuführen,
daran ist nicht bloss Athen sondern ist Hellas zu grunde gegangen. weil
für jene ganze cultur das Dorertum führend und massgebend ist (obwol
das schon versteinernde Sparta an der poesie gar keinen anteil mehr
hat), nennt man nicht ohne grund auch die poesie dorisch, und hat es
schon damals getan: festzuhalten aber ist, dass die Dorer kaum einen
dichter gestellt haben, und dass es schon eine bewunderte und bewun-
dernswerte ausnahme war, als ein boeotischer adlicher, aus einem ge-
schlechte das noch über die einwanderung zurückreichen wollte, das hand-
werk ergriff, das sonst ein Dryoper, Lasos, ein Lesbier, Arion, ein Keer,
Simonides, ein Chalkidier aus Rhegion, Ibykos, übten. 37) erst Pindaros,
und auch er nur mit einsetzung seiner ganzen persönlichkeit, hat die
dichtung aus den händen der bezahlten fahrenden genommen. der adel
hörte zu, sang wol auch mit; aber er hielt das dichten doch nicht für
ganz standesgemäss. Archilochos, "zugleich ein sänger und ein held",
war ihm widerwärtig.

Die antiken philologen haben sich abgemüht die chorischen gedichte
in classen zu sondern. der zweck war zunächst ein rein äusserlicher,
nämlich für die erst von ihnen in gesammtausgaben vereinigten gedichte
eine ordnung zu finden, die man nach einigem schwanken in solchen
classen fand, wie hymnen paeane dithyramben u. s. w. da die über-
lieferung über diese äusserlichkeiten zufällig eine ziemlich reiche ist (weil
die uns erhaltenen grammatiker ein buch des Didymos eifrig ausge-
schrieben haben), so haben sich die modernen zu dem irrtum ver-
leiten lassen, als käme auf die gattungen etwas besonderes an. das
wichtige ist vielmehr, dass die gedichte selbst, alle wie sie da sind,
die individuellen äusserungen des dichters sind. der anlass wird ihn ver-
schieden stimmen; er wird einen andern ton anschlagen beim festmal
als an der bahre, vor dem delischen Apollon als vor dem libyschen Am-
mon, aber das verhältnis zwischen ihm und dem gegenstande seines ge-
dichtes, dem chore der es singt, dem publicum das es hört, ist in allen
fällen dasselbe. einmal und überall sind der dichter und das publicum
höchst concrete personen, und ist der chor gar keine person. selbst
was die form angeht, ist der unterschied nur für eine gattung hervor-
stechend, allerdings die welche uns hier vorzüglich angeht, den dithyrambos.

37) Pratinas von Phleius im hyporchem tan eman Dorion khoreian: er ist
der einzige Dorer, aber er ist in Athen zugewandert, wo auch sein sohn bleibt.
die musiker sind oft Argeier.

Die chorische lyrik.
wunden, und zuerst ist diese poesie untergegangen. daſs es die mate-
rielle kraft nicht gewann, auch die politische herrschaft durchzuführen,
daran ist nicht bloſs Athen sondern ist Hellas zu grunde gegangen. weil
für jene ganze cultur das Dorertum führend und maſsgebend ist (obwol
das schon versteinernde Sparta an der poesie gar keinen anteil mehr
hat), nennt man nicht ohne grund auch die poesie dorisch, und hat es
schon damals getan: festzuhalten aber ist, daſs die Dorer kaum einen
dichter gestellt haben, und daſs es schon eine bewunderte und bewun-
dernswerte ausnahme war, als ein boeotischer adlicher, aus einem ge-
schlechte das noch über die einwanderung zurückreichen wollte, das hand-
werk ergriff, das sonst ein Dryoper, Lasos, ein Lesbier, Arion, ein Keer,
Simonides, ein Chalkidier aus Rhegion, Ibykos, übten. 37) erst Pindaros,
und auch er nur mit einsetzung seiner ganzen persönlichkeit, hat die
dichtung aus den händen der bezahlten fahrenden genommen. der adel
hörte zu, sang wol auch mit; aber er hielt das dichten doch nicht für
ganz standesgemäſs. Archilochos, “zugleich ein sänger und ein held”,
war ihm widerwärtig.

Die antiken philologen haben sich abgemüht die chorischen gedichte
in classen zu sondern. der zweck war zunächst ein rein äuſserlicher,
nämlich für die erst von ihnen in gesammtausgaben vereinigten gedichte
eine ordnung zu finden, die man nach einigem schwanken in solchen
classen fand, wie hymnen paeane dithyramben u. s. w. da die über-
lieferung über diese äuſserlichkeiten zufällig eine ziemlich reiche ist (weil
die uns erhaltenen grammatiker ein buch des Didymos eifrig ausge-
schrieben haben), so haben sich die modernen zu dem irrtum ver-
leiten lassen, als käme auf die gattungen etwas besonderes an. das
wichtige ist vielmehr, daſs die gedichte selbst, alle wie sie da sind,
die individuellen äuſserungen des dichters sind. der anlaſs wird ihn ver-
schieden stimmen; er wird einen andern ton anschlagen beim festmal
als an der bahre, vor dem delischen Apollon als vor dem libyschen Am-
mon, aber das verhältnis zwischen ihm und dem gegenstande seines ge-
dichtes, dem chore der es singt, dem publicum das es hört, ist in allen
fällen dasselbe. einmal und überall sind der dichter und das publicum
höchst concrete personen, und ist der chor gar keine person. selbst
was die form angeht, ist der unterschied nur für eine gattung hervor-
stechend, allerdings die welche uns hier vorzüglich angeht, den dithyrambos.

37) Pratinas von Phleius im hyporchem τὰν ἐμὰν Δώριον χορείαν: er ist
der einzige Dorer, aber er ist in Athen zugewandert, wo auch sein sohn bleibt.
die musiker sind oft Argeier.
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[75/0095] Die chorische lyrik. wunden, und zuerst ist diese poesie untergegangen. daſs es die mate- rielle kraft nicht gewann, auch die politische herrschaft durchzuführen, daran ist nicht bloſs Athen sondern ist Hellas zu grunde gegangen. weil für jene ganze cultur das Dorertum führend und maſsgebend ist (obwol das schon versteinernde Sparta an der poesie gar keinen anteil mehr hat), nennt man nicht ohne grund auch die poesie dorisch, und hat es schon damals getan: festzuhalten aber ist, daſs die Dorer kaum einen dichter gestellt haben, und daſs es schon eine bewunderte und bewun- dernswerte ausnahme war, als ein boeotischer adlicher, aus einem ge- schlechte das noch über die einwanderung zurückreichen wollte, das hand- werk ergriff, das sonst ein Dryoper, Lasos, ein Lesbier, Arion, ein Keer, Simonides, ein Chalkidier aus Rhegion, Ibykos, übten. 37) erst Pindaros, und auch er nur mit einsetzung seiner ganzen persönlichkeit, hat die dichtung aus den händen der bezahlten fahrenden genommen. der adel hörte zu, sang wol auch mit; aber er hielt das dichten doch nicht für ganz standesgemäſs. Archilochos, “zugleich ein sänger und ein held”, war ihm widerwärtig. Die antiken philologen haben sich abgemüht die chorischen gedichte in classen zu sondern. der zweck war zunächst ein rein äuſserlicher, nämlich für die erst von ihnen in gesammtausgaben vereinigten gedichte eine ordnung zu finden, die man nach einigem schwanken in solchen classen fand, wie hymnen paeane dithyramben u. s. w. da die über- lieferung über diese äuſserlichkeiten zufällig eine ziemlich reiche ist (weil die uns erhaltenen grammatiker ein buch des Didymos eifrig ausge- schrieben haben), so haben sich die modernen zu dem irrtum ver- leiten lassen, als käme auf die gattungen etwas besonderes an. das wichtige ist vielmehr, daſs die gedichte selbst, alle wie sie da sind, die individuellen äuſserungen des dichters sind. der anlaſs wird ihn ver- schieden stimmen; er wird einen andern ton anschlagen beim festmal als an der bahre, vor dem delischen Apollon als vor dem libyschen Am- mon, aber das verhältnis zwischen ihm und dem gegenstande seines ge- dichtes, dem chore der es singt, dem publicum das es hört, ist in allen fällen dasselbe. einmal und überall sind der dichter und das publicum höchst concrete personen, und ist der chor gar keine person. selbst was die form angeht, ist der unterschied nur für eine gattung hervor- stechend, allerdings die welche uns hier vorzüglich angeht, den dithyrambos. 37) Pratinas von Phleius im hyporchem τὰν ἐμὰν Δώριον χορείαν: er ist der einzige Dorer, aber er ist in Athen zugewandert, wo auch sein sohn bleibt. die musiker sind oft Argeier.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/95>, abgerufen am 27.11.2024.