Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Und er war es wirklich. Aber es war nicht der Drang nach dem Besseren, der, wie früher, seine Seele in zwei streitende Hälften riß; der nicht zu sättigende Durst der Leidenschaft hatte, für jetzt wenigstens, jede andere Stimme in ihm erstickt. Leonie sah, daß er litt, und sie litt mit ihm; aber mit der Härte, die in ihr lag, kümmerte sie sich nicht darum. Sie frug ihr Herz nicht, sie ging ihren Weg und blickte nur auf das Ziel. Er muß warten lernen, dachte sie, er wird noch oft warten müssen, denn meine Stellung setze ich nicht aufs Spiel. Und doch, was litt sie nicht! Ich will glücklich sein, sagte sie, tief aufathmend, ich muß es sein, aber jetzt nicht -- jetzt ist noch nicht die Zeit! Wäre nur mein Vater fort! wüßte ich wenigstens, daß alle seine Freundlichkeit nicht bloß eine Mine ist, die mit mir auffliegen wird, wenn ich am wenigsten daran denke! -- O diese dumme Liebe, die Otto hier zurückhalten muß! Hat uns diese Marie nicht schon weh genug gethan? Sie zog das Weltleben um sich wie eine Mauer und lebte in einem Strudel von Zerstreuungen, der ihr fast keinen Augenblick des Nachdenkens und der Einsamkeit ließ. Und doch kam die Stunde, die sie mit solcher Gewalt von sich fern zu halten suchte, und als sie kam, fehlte ihr die Kraft, ihr aus dem Wege zu gehen. Eines Tages war Otto bei ihr und überließ sich seiner Begeisterung für die noch ahnungslose Braut, die er erwählt, da trat der Marquis sonderbarer Weise unangemeldet herein. Wo ist mein Schwager? frug Otto, um einen Grund zu haben, dem unliebsamen Störer auszuweichen. Mein Mann ist auf seinem Zimmer -- ich will mit dir gehen, sagte sie rasch, als er sich nach der Thüre wandte, und sie wollte ihm nach. Da legte Louis mit einer flehenden Gebärde seine Und er war es wirklich. Aber es war nicht der Drang nach dem Besseren, der, wie früher, seine Seele in zwei streitende Hälften riß; der nicht zu sättigende Durst der Leidenschaft hatte, für jetzt wenigstens, jede andere Stimme in ihm erstickt. Leonie sah, daß er litt, und sie litt mit ihm; aber mit der Härte, die in ihr lag, kümmerte sie sich nicht darum. Sie frug ihr Herz nicht, sie ging ihren Weg und blickte nur auf das Ziel. Er muß warten lernen, dachte sie, er wird noch oft warten müssen, denn meine Stellung setze ich nicht aufs Spiel. Und doch, was litt sie nicht! Ich will glücklich sein, sagte sie, tief aufathmend, ich muß es sein, aber jetzt nicht — jetzt ist noch nicht die Zeit! Wäre nur mein Vater fort! wüßte ich wenigstens, daß alle seine Freundlichkeit nicht bloß eine Mine ist, die mit mir auffliegen wird, wenn ich am wenigsten daran denke! — O diese dumme Liebe, die Otto hier zurückhalten muß! Hat uns diese Marie nicht schon weh genug gethan? Sie zog das Weltleben um sich wie eine Mauer und lebte in einem Strudel von Zerstreuungen, der ihr fast keinen Augenblick des Nachdenkens und der Einsamkeit ließ. Und doch kam die Stunde, die sie mit solcher Gewalt von sich fern zu halten suchte, und als sie kam, fehlte ihr die Kraft, ihr aus dem Wege zu gehen. Eines Tages war Otto bei ihr und überließ sich seiner Begeisterung für die noch ahnungslose Braut, die er erwählt, da trat der Marquis sonderbarer Weise unangemeldet herein. Wo ist mein Schwager? frug Otto, um einen Grund zu haben, dem unliebsamen Störer auszuweichen. Mein Mann ist auf seinem Zimmer — ich will mit dir gehen, sagte sie rasch, als er sich nach der Thüre wandte, und sie wollte ihm nach. Da legte Louis mit einer flehenden Gebärde seine <TEI> <text> <body> <div n="3"> <pb facs="#f0130"/> <p>Und er war es wirklich. Aber es war nicht der Drang nach dem Besseren, der, wie früher, seine Seele in zwei streitende Hälften riß; der nicht zu sättigende Durst der Leidenschaft hatte, für jetzt wenigstens, jede andere Stimme in ihm erstickt. Leonie sah, daß er litt, und sie litt mit ihm; aber mit der Härte, die in ihr lag, kümmerte sie sich nicht darum. Sie frug ihr Herz nicht, sie ging ihren Weg und blickte nur auf das Ziel.</p><lb/> <p>Er muß warten lernen, dachte sie, er wird noch oft warten müssen, denn meine Stellung setze ich nicht aufs Spiel. Und doch, was litt sie nicht! Ich will glücklich sein, sagte sie, tief aufathmend, ich muß es sein, aber jetzt nicht — jetzt ist noch nicht die Zeit! Wäre nur mein Vater fort! wüßte ich wenigstens, daß alle seine Freundlichkeit nicht bloß eine Mine ist, die mit mir auffliegen wird, wenn ich am wenigsten daran denke! — O diese dumme Liebe, die Otto hier zurückhalten muß! Hat uns diese Marie nicht schon weh genug gethan?</p><lb/> <p>Sie zog das Weltleben um sich wie eine Mauer und lebte in einem Strudel von Zerstreuungen, der ihr fast keinen Augenblick des Nachdenkens und der Einsamkeit ließ. Und doch kam die Stunde, die sie mit solcher Gewalt von sich fern zu halten suchte, und als sie kam, fehlte ihr die Kraft, ihr aus dem Wege zu gehen.</p><lb/> <p>Eines Tages war Otto bei ihr und überließ sich seiner Begeisterung für die noch ahnungslose Braut, die er erwählt, da trat der Marquis sonderbarer Weise unangemeldet herein.</p><lb/> <p>Wo ist mein Schwager? frug Otto, um einen Grund zu haben, dem unliebsamen Störer auszuweichen.</p><lb/> <p>Mein Mann ist auf seinem Zimmer — ich will mit dir gehen, sagte sie rasch, als er sich nach der Thüre wandte, und sie wollte ihm nach.</p><lb/> <p>Da legte Louis mit einer flehenden Gebärde seine<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
Und er war es wirklich. Aber es war nicht der Drang nach dem Besseren, der, wie früher, seine Seele in zwei streitende Hälften riß; der nicht zu sättigende Durst der Leidenschaft hatte, für jetzt wenigstens, jede andere Stimme in ihm erstickt. Leonie sah, daß er litt, und sie litt mit ihm; aber mit der Härte, die in ihr lag, kümmerte sie sich nicht darum. Sie frug ihr Herz nicht, sie ging ihren Weg und blickte nur auf das Ziel.
Er muß warten lernen, dachte sie, er wird noch oft warten müssen, denn meine Stellung setze ich nicht aufs Spiel. Und doch, was litt sie nicht! Ich will glücklich sein, sagte sie, tief aufathmend, ich muß es sein, aber jetzt nicht — jetzt ist noch nicht die Zeit! Wäre nur mein Vater fort! wüßte ich wenigstens, daß alle seine Freundlichkeit nicht bloß eine Mine ist, die mit mir auffliegen wird, wenn ich am wenigsten daran denke! — O diese dumme Liebe, die Otto hier zurückhalten muß! Hat uns diese Marie nicht schon weh genug gethan?
Sie zog das Weltleben um sich wie eine Mauer und lebte in einem Strudel von Zerstreuungen, der ihr fast keinen Augenblick des Nachdenkens und der Einsamkeit ließ. Und doch kam die Stunde, die sie mit solcher Gewalt von sich fern zu halten suchte, und als sie kam, fehlte ihr die Kraft, ihr aus dem Wege zu gehen.
Eines Tages war Otto bei ihr und überließ sich seiner Begeisterung für die noch ahnungslose Braut, die er erwählt, da trat der Marquis sonderbarer Weise unangemeldet herein.
Wo ist mein Schwager? frug Otto, um einen Grund zu haben, dem unliebsamen Störer auszuweichen.
Mein Mann ist auf seinem Zimmer — ich will mit dir gehen, sagte sie rasch, als er sich nach der Thüre wandte, und sie wollte ihm nach.
Da legte Louis mit einer flehenden Gebärde seine
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T13:30:48Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T13:30:48Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |