Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Wer möchte Leonie's Gefühle beschreiben, während sie an dem Bette ihres Vaters stehend den wenigen Worten lauschte, die er in ärgerlicher Hast hervorstieß? Ohne ihr Zuthun war ein Stein aus ihrem Wege geräumt, der ihrem Willen so lange ein unüberwindliches Hindernis gewesen war. Ihre Hände zitterten, während sie die warmen Decken dichter um ihn hüllte, ihr Athem war heiß und beklommen. Jetzt war es Zeit -- jetzt! Nie würde sie wieder so günstig sein. Dieses Schmerzenslager ihres Vaters sollte ihrer gierigen Leidenschaft endlich üppige Sättigung und Sicherheit bieten. Soll ich hier bleiben? sagte sie. Es ist nicht nöthig. Mein Kammerdiener reicht für Alles aus. Ich werde wenigstens nicht aus dem Hause gehen, erwiderte sie, während sie ihn verließ. Und wieder ist es Abend. Leonie lag halb angekleidet in der geöffneten Balconthüre ihres Zimmers auf den Knien. Es war eine schwüle, duftige Sommernacht, der leichte Überwurf, welcher durchsichtig über ihre Unterkleider fiel, verhüllte kaum das unruhige Wogen ihrer Brust, die Haare fielen halb aufgelöst über die blendend weißen Schultern der jungen Frau. Es ist spät, aber sie hatte ihre Kammerfrau schon lange weggeschickt. Sie wartete, ihr Herz schlug. Neben ihr auf einem Tischchen brannte die Lampe und übergoss die schöne, zarte Gestalt mit ihrem hellen Licht. O, flüsterte sie, er wird kommen und endlich werden wir glücklich sein! Und wenn Alles um uns zusammenbricht, diese Nacht gehört uns, diese einzige Nacht voll Seligkeit, die kein Mensch uns rauben kann! Sie horchte -- ihr war, als habe sie einen Schritt gehört -- doch nein -- Alles war still. Louis! rief sie mit sehnsüchtiger Ungeduld fast laut, o mein Louis, wo bleibst du denn? Jede verzögerte Minute ist ein Raub, den keine Zukunft uns Wer möchte Leonie's Gefühle beschreiben, während sie an dem Bette ihres Vaters stehend den wenigen Worten lauschte, die er in ärgerlicher Hast hervorstieß? Ohne ihr Zuthun war ein Stein aus ihrem Wege geräumt, der ihrem Willen so lange ein unüberwindliches Hindernis gewesen war. Ihre Hände zitterten, während sie die warmen Decken dichter um ihn hüllte, ihr Athem war heiß und beklommen. Jetzt war es Zeit — jetzt! Nie würde sie wieder so günstig sein. Dieses Schmerzenslager ihres Vaters sollte ihrer gierigen Leidenschaft endlich üppige Sättigung und Sicherheit bieten. Soll ich hier bleiben? sagte sie. Es ist nicht nöthig. Mein Kammerdiener reicht für Alles aus. Ich werde wenigstens nicht aus dem Hause gehen, erwiderte sie, während sie ihn verließ. Und wieder ist es Abend. Leonie lag halb angekleidet in der geöffneten Balconthüre ihres Zimmers auf den Knien. Es war eine schwüle, duftige Sommernacht, der leichte Überwurf, welcher durchsichtig über ihre Unterkleider fiel, verhüllte kaum das unruhige Wogen ihrer Brust, die Haare fielen halb aufgelöst über die blendend weißen Schultern der jungen Frau. Es ist spät, aber sie hatte ihre Kammerfrau schon lange weggeschickt. Sie wartete, ihr Herz schlug. Neben ihr auf einem Tischchen brannte die Lampe und übergoss die schöne, zarte Gestalt mit ihrem hellen Licht. O, flüsterte sie, er wird kommen und endlich werden wir glücklich sein! Und wenn Alles um uns zusammenbricht, diese Nacht gehört uns, diese einzige Nacht voll Seligkeit, die kein Mensch uns rauben kann! Sie horchte — ihr war, als habe sie einen Schritt gehört — doch nein — Alles war still. Louis! rief sie mit sehnsüchtiger Ungeduld fast laut, o mein Louis, wo bleibst du denn? 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Wer möchte Leonie's Gefühle beschreiben, während sie an dem Bette ihres Vaters stehend den wenigen Worten lauschte, die er in ärgerlicher Hast hervorstieß? Ohne ihr Zuthun war ein Stein aus ihrem Wege geräumt, der ihrem Willen so lange ein unüberwindliches Hindernis gewesen war. Ihre Hände zitterten, während sie die warmen Decken dichter um ihn hüllte, ihr Athem war heiß und beklommen. Jetzt war es Zeit — jetzt! Nie würde sie wieder so günstig sein. Dieses Schmerzenslager ihres Vaters sollte ihrer gierigen Leidenschaft endlich üppige Sättigung und Sicherheit bieten.
Soll ich hier bleiben? sagte sie.
Es ist nicht nöthig. Mein Kammerdiener reicht für Alles aus.
Ich werde wenigstens nicht aus dem Hause gehen, erwiderte sie, während sie ihn verließ.
Und wieder ist es Abend. Leonie lag halb angekleidet in der geöffneten Balconthüre ihres Zimmers auf den Knien. Es war eine schwüle, duftige Sommernacht, der leichte Überwurf, welcher durchsichtig über ihre Unterkleider fiel, verhüllte kaum das unruhige Wogen ihrer Brust, die Haare fielen halb aufgelöst über die blendend weißen Schultern der jungen Frau. Es ist spät, aber sie hatte ihre Kammerfrau schon lange weggeschickt. Sie wartete, ihr Herz schlug. Neben ihr auf einem Tischchen brannte die Lampe und übergoss die schöne, zarte Gestalt mit ihrem hellen Licht.
O, flüsterte sie, er wird kommen und endlich werden wir glücklich sein! Und wenn Alles um uns zusammenbricht, diese Nacht gehört uns, diese einzige Nacht voll Seligkeit, die kein Mensch uns rauben kann!
Sie horchte — ihr war, als habe sie einen Schritt gehört — doch nein — Alles war still.
Louis! rief sie mit sehnsüchtiger Ungeduld fast laut, o mein Louis, wo bleibst du denn? Jede verzögerte Minute ist ein Raub, den keine Zukunft uns
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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T13:30:48Z)
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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