Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite
letzte Seite

zu, mit welcher er ihre Bitte, sie nicht nach S. zu schicken, von sich gewiesen.

Louis blieb verschollen seit jener Nacht, die ein so schreckliches Licht auf seine Liebe geworfen. Erst nach Jahren wollten die Zeitungen von einem jungen Geistlichen französischer Abkunft wissen, der, plötzlich in Brasilien erschienen, durch seinen Eifer und seine Menschlichkeit überall Liebe und Verehrung gewonnen. Als das gelbe Fieber mit ungewöhnlicher Wuth unter der farbigen Bevölkerung des Landes ausbrach, widmete er sich der Pflege der Verlassenen, und die Seuche hatte ihn bald hinweggerafft. Aus den Papieren, die man bei ihm gefunden, wollte man wissen, er sei der Letzte gewesen des altberühmten Hauses Derer von Canteloup. So war der Traum seiner Kindheit in Erfüllung gegangen, nur anders wohl, als er es sich gedacht; er starb als ein Märtyrer der Menschheit, aber statt der göttlichen Liebe war es die irdische gewesen, welche ihn zu seinem hohen Ziele geführt.

In S. ging durch Otto's Vermählung mit Marie ein reges, glückliches Leben auf, durch welches der alte Graf wie ein finsterer Schatten schlich. Leonie's Tod hatte den letzten Funken seiner Kraft vernichtet. Er erlebte es noch, seinen ersten Enkel zu sehen, aber selbst diese Freude bannte die Erinnerung an die Verstorbene nicht, und keine Vernunftgründe vermochten den Sturm zu tobten, der ihm am Herzen fraß; denn vielleicht -- vielleicht war sie ja doch sein Kind, und vielleicht war es der Stachel seiner Lieblosigkeit gewesen, der sie zuerst ihrem Verderben entgegentrieb.

zu, mit welcher er ihre Bitte, sie nicht nach S. zu schicken, von sich gewiesen.

Louis blieb verschollen seit jener Nacht, die ein so schreckliches Licht auf seine Liebe geworfen. Erst nach Jahren wollten die Zeitungen von einem jungen Geistlichen französischer Abkunft wissen, der, plötzlich in Brasilien erschienen, durch seinen Eifer und seine Menschlichkeit überall Liebe und Verehrung gewonnen. Als das gelbe Fieber mit ungewöhnlicher Wuth unter der farbigen Bevölkerung des Landes ausbrach, widmete er sich der Pflege der Verlassenen, und die Seuche hatte ihn bald hinweggerafft. Aus den Papieren, die man bei ihm gefunden, wollte man wissen, er sei der Letzte gewesen des altberühmten Hauses Derer von Canteloup. So war der Traum seiner Kindheit in Erfüllung gegangen, nur anders wohl, als er es sich gedacht; er starb als ein Märtyrer der Menschheit, aber statt der göttlichen Liebe war es die irdische gewesen, welche ihn zu seinem hohen Ziele geführt.

In S. ging durch Otto's Vermählung mit Marie ein reges, glückliches Leben auf, durch welches der alte Graf wie ein finsterer Schatten schlich. Leonie's Tod hatte den letzten Funken seiner Kraft vernichtet. Er erlebte es noch, seinen ersten Enkel zu sehen, aber selbst diese Freude bannte die Erinnerung an die Verstorbene nicht, und keine Vernunftgründe vermochten den Sturm zu tobten, der ihm am Herzen fraß; denn vielleicht — vielleicht war sie ja doch sein Kind, und vielleicht war es der Stachel seiner Lieblosigkeit gewesen, der sie zuerst ihrem Verderben entgegentrieb.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0213"/>
zu, mit welcher er ihre Bitte, sie      nicht nach S. zu schicken, von sich gewiesen.</p><lb/>
        <p>Louis blieb verschollen seit jener Nacht, die ein so schreckliches Licht auf seine Liebe      geworfen. Erst nach Jahren wollten die Zeitungen von einem jungen Geistlichen französischer      Abkunft wissen, der, plötzlich in Brasilien erschienen, durch seinen Eifer und seine      Menschlichkeit überall Liebe und Verehrung gewonnen. Als das gelbe Fieber mit ungewöhnlicher      Wuth unter der farbigen Bevölkerung des Landes ausbrach, widmete er sich der Pflege der      Verlassenen, und die Seuche hatte ihn bald hinweggerafft. Aus den Papieren, die man bei ihm      gefunden, wollte man wissen, er sei der Letzte gewesen des altberühmten Hauses Derer von      Canteloup. So war der Traum seiner Kindheit in Erfüllung gegangen, nur anders wohl, als er es      sich gedacht; er starb als ein Märtyrer der Menschheit, aber statt der göttlichen Liebe war es      die irdische gewesen, welche ihn zu seinem hohen Ziele geführt.</p><lb/>
        <p>In S. ging durch Otto's Vermählung mit Marie ein reges, glückliches Leben auf, durch welches      der alte Graf wie ein finsterer Schatten schlich. Leonie's Tod hatte den letzten Funken seiner      Kraft vernichtet. Er erlebte es noch, seinen ersten Enkel zu sehen, aber selbst diese Freude      bannte die Erinnerung an die Verstorbene nicht, und keine Vernunftgründe vermochten den Sturm      zu tobten, der ihm am Herzen fraß; denn vielleicht &#x2014; vielleicht war sie ja doch sein Kind, und      vielleicht war es der Stachel seiner Lieblosigkeit gewesen, der sie zuerst ihrem Verderben      entgegentrieb.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] zu, mit welcher er ihre Bitte, sie nicht nach S. zu schicken, von sich gewiesen. Louis blieb verschollen seit jener Nacht, die ein so schreckliches Licht auf seine Liebe geworfen. Erst nach Jahren wollten die Zeitungen von einem jungen Geistlichen französischer Abkunft wissen, der, plötzlich in Brasilien erschienen, durch seinen Eifer und seine Menschlichkeit überall Liebe und Verehrung gewonnen. Als das gelbe Fieber mit ungewöhnlicher Wuth unter der farbigen Bevölkerung des Landes ausbrach, widmete er sich der Pflege der Verlassenen, und die Seuche hatte ihn bald hinweggerafft. Aus den Papieren, die man bei ihm gefunden, wollte man wissen, er sei der Letzte gewesen des altberühmten Hauses Derer von Canteloup. So war der Traum seiner Kindheit in Erfüllung gegangen, nur anders wohl, als er es sich gedacht; er starb als ein Märtyrer der Menschheit, aber statt der göttlichen Liebe war es die irdische gewesen, welche ihn zu seinem hohen Ziele geführt. In S. ging durch Otto's Vermählung mit Marie ein reges, glückliches Leben auf, durch welches der alte Graf wie ein finsterer Schatten schlich. Leonie's Tod hatte den letzten Funken seiner Kraft vernichtet. Er erlebte es noch, seinen ersten Enkel zu sehen, aber selbst diese Freude bannte die Erinnerung an die Verstorbene nicht, und keine Vernunftgründe vermochten den Sturm zu tobten, der ihm am Herzen fraß; denn vielleicht — vielleicht war sie ja doch sein Kind, und vielleicht war es der Stachel seiner Lieblosigkeit gewesen, der sie zuerst ihrem Verderben entgegentrieb.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/213
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/213>, abgerufen am 24.11.2024.