Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

verlassend, außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Raumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich auf die Jugend doch gar nicht verlassen. -- Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.

Das Mädel muss wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. -- Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war; wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! -- rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen.

War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. -- Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Überraschung an ihr nieder auf die Knie glitt.

verlassend, außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Raumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich auf die Jugend doch gar nicht verlassen. — Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.

Das Mädel muss wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. — Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war; wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! — rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen.

War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. — Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Überraschung an ihr nieder auf die Knie glitt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035"/>
verlassend, außerdem noch einige kleine      Vorkehrungen in den unteren Raumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen      Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig      überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet      haben so allein, dachte sie, man kann sich auf die Jugend doch gar nicht verlassen. &#x2014; Die      Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche,      setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still.      Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.</p><lb/>
        <p>Das Mädel muss wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele      Wachen hat es ermüdet. &#x2014; Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte      und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben      Schlummer, in den sie versunken war; wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die      Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und      wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand      aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! &#x2014; rief sie und streckte der      Eintretenden beide Arme entgegen.</p><lb/>
        <p>War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens      sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte      sie doch nie gekannt. &#x2014; Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der      Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen      Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Überraschung an      ihr nieder auf die Knie glitt.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] verlassend, außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Raumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich auf die Jugend doch gar nicht verlassen. — Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht. Das Mädel muss wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. — Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war; wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! — rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen. War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. — Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Überraschung an ihr nieder auf die Knie glitt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/35
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/35>, abgerufen am 21.11.2024.