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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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neben ihr, und zu dieser neigte sie sich: Wer ist der junge Mann dort in der Loge? fragte sie. Aber die Gouvernante wusste es nicht.

Der junge Mann dort links mit den schwarzen Augen, der soeben nach uns gesehen hat? sagte ein Bekannter ihres Vaters, der vor einigen Minuten in ihre Loge getreten war, indem er das Opernglas von den Augen nahm.

Derselbe, versetzte Leonie, scheinbar mit der tiefsten Ruhe. Er kommt mir so bekannt vor, doch weiß ich nicht, wo ich ihn hinthun soll.

Das kann ich Ihnen sagen: er ist ein Emigrirter von sehr vornehmer französischer Familie, der sich für den Augenblick hier aufhält.

Ah so, meinte Leonie, so habe ich mich doch getäuscht. Derjenige, den ich meine, ist freilich auch ein Ausländer, aber ein armer junger Mann.

Was das betrifft, so könnte es immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er große Schätze aus Frankreich mitgebracht hat.

Ich habe mich doch geirrt, er kann es nicht sein, sagte Leonie und wandte den ganzen Abend das Gesicht nicht mehr nach der Loge hin.

Aber in ihrem Herzen war es nicht so still, und mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Musik war es vorbei. Schon vor dem Ende des Stückes entfernte sie sich. Als sie durch den Gang hinter den Logen schritt, streifte ihr Kleid an den Fremden an; ein heißer Stich fuhr durch ihr Herz, doch sie ging vorüber, ohne auszusehen, und zu Hause angekommen, schloß sie sich gleich in ihr Zimmer ein.

Sie suchte den Eindruck los zu werden, der ihr so ungelegen gekommen war. Sie beschäftigte sich, räumte, kramte, Alles umsonst. Sie versuchte einen Brief fertig zu schreiben, der angefangen auf ihrem Tische lag, und mitten im Schreiben entfiel die Feder ihrer Hand, der Kopf sank auf das Papier; sie war

neben ihr, und zu dieser neigte sie sich: Wer ist der junge Mann dort in der Loge? fragte sie. Aber die Gouvernante wusste es nicht.

Der junge Mann dort links mit den schwarzen Augen, der soeben nach uns gesehen hat? sagte ein Bekannter ihres Vaters, der vor einigen Minuten in ihre Loge getreten war, indem er das Opernglas von den Augen nahm.

Derselbe, versetzte Leonie, scheinbar mit der tiefsten Ruhe. Er kommt mir so bekannt vor, doch weiß ich nicht, wo ich ihn hinthun soll.

Das kann ich Ihnen sagen: er ist ein Emigrirter von sehr vornehmer französischer Familie, der sich für den Augenblick hier aufhält.

Ah so, meinte Leonie, so habe ich mich doch getäuscht. Derjenige, den ich meine, ist freilich auch ein Ausländer, aber ein armer junger Mann.

Was das betrifft, so könnte es immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er große Schätze aus Frankreich mitgebracht hat.

Ich habe mich doch geirrt, er kann es nicht sein, sagte Leonie und wandte den ganzen Abend das Gesicht nicht mehr nach der Loge hin.

Aber in ihrem Herzen war es nicht so still, und mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Musik war es vorbei. Schon vor dem Ende des Stückes entfernte sie sich. Als sie durch den Gang hinter den Logen schritt, streifte ihr Kleid an den Fremden an; ein heißer Stich fuhr durch ihr Herz, doch sie ging vorüber, ohne auszusehen, und zu Hause angekommen, schloß sie sich gleich in ihr Zimmer ein.

Sie suchte den Eindruck los zu werden, der ihr so ungelegen gekommen war. Sie beschäftigte sich, räumte, kramte, Alles umsonst. Sie versuchte einen Brief fertig zu schreiben, der angefangen auf ihrem Tische lag, und mitten im Schreiben entfiel die Feder ihrer Hand, der Kopf sank auf das Papier; sie war

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[0051] neben ihr, und zu dieser neigte sie sich: Wer ist der junge Mann dort in der Loge? fragte sie. Aber die Gouvernante wusste es nicht. Der junge Mann dort links mit den schwarzen Augen, der soeben nach uns gesehen hat? sagte ein Bekannter ihres Vaters, der vor einigen Minuten in ihre Loge getreten war, indem er das Opernglas von den Augen nahm. Derselbe, versetzte Leonie, scheinbar mit der tiefsten Ruhe. Er kommt mir so bekannt vor, doch weiß ich nicht, wo ich ihn hinthun soll. Das kann ich Ihnen sagen: er ist ein Emigrirter von sehr vornehmer französischer Familie, der sich für den Augenblick hier aufhält. Ah so, meinte Leonie, so habe ich mich doch getäuscht. Derjenige, den ich meine, ist freilich auch ein Ausländer, aber ein armer junger Mann. Was das betrifft, so könnte es immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er große Schätze aus Frankreich mitgebracht hat. Ich habe mich doch geirrt, er kann es nicht sein, sagte Leonie und wandte den ganzen Abend das Gesicht nicht mehr nach der Loge hin. Aber in ihrem Herzen war es nicht so still, und mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Musik war es vorbei. Schon vor dem Ende des Stückes entfernte sie sich. Als sie durch den Gang hinter den Logen schritt, streifte ihr Kleid an den Fremden an; ein heißer Stich fuhr durch ihr Herz, doch sie ging vorüber, ohne auszusehen, und zu Hause angekommen, schloß sie sich gleich in ihr Zimmer ein. Sie suchte den Eindruck los zu werden, der ihr so ungelegen gekommen war. Sie beschäftigte sich, räumte, kramte, Alles umsonst. Sie versuchte einen Brief fertig zu schreiben, der angefangen auf ihrem Tische lag, und mitten im Schreiben entfiel die Feder ihrer Hand, der Kopf sank auf das Papier; sie war

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/51>, abgerufen am 14.05.2024.