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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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zung der Pflicht, die er sich auferlegt. Vielleicht dachte er auch, Leonie's besondere geistige Richtung verlange eine sorgfältigere Überwachung, als der gutmüthige Knabe, dessen reine Seele unverhüllt in dem offenen Spiegel seiner Worte lag, und diese Eigenschaft des Kindes war es auch vielleicht, warum er ihn lieber aus dem Bereiche jedes unlauteren Eindruckes ferne hielt. Jetzt aber, wo die letzte Pflicht erfüllt war, konnte er endlich seinem Sohne leben und diesem Sohn Alles sein und ihn Alles für sich sein lassen, was er nur je für ihn und von ihm geträumt. Und unter dem Wortschwalle Otto's, der mit dem treuen und doch so nachsichtigen Gedächtnis der Liebe alle Vorzüge und reizenden Liebenswürdigkeiten der ihm so unähnlichen Schwester in das glänzendste Licht zu stellen sich befliß, hing des Vaters Blick an seinen Zügen und verfolgte in ihnen mit sonderbarer Rührung eine schwache Ähnlichkeit mit einem früh verstorbenen Bruder, der ihn aus seinen Kinderjahren durch Otto's klare Augen wieder anzulächeln schien. Es war eine Aehnlichkeit, die, süß in sich, doch sein Herz in wehmüthiger Ahnung zusammenzog; denn er konnte sich nicht verhehlen, das aus dem kräftigen Knaben der Jüngling sich körperlich nicht in dem Grade entwickelt hatte, wie es für des Vaters Stolz und Freude zu wünschen war. Otto hatte vor Kurzem erst seine Studien absolvirt, und obgleich er eben keinen feurigen Geist besaß und das Studiren auch nicht gerade seine Neigung war, hatte er doch rasche und sogar glänzende Fortschritte darin gemacht. Das freie Leben als Jäger und Ökonom wäre weit mehr nach seiner Neigung gewesen, und er seufzte auch manchmal über die schweren Folianten, wenn er im Geist zu der reinen Lust, die seine Schwester unterdessen einsog, und zu den Wäldern und Feldern des väterlichen Gutes zurückging. Aber Studiren war für jetzt seine Pflicht, und so studirte er denn. Bei der angestrengten Arbeit aber hatte sein Gesicht sich ge-

zung der Pflicht, die er sich auferlegt. Vielleicht dachte er auch, Leonie's besondere geistige Richtung verlange eine sorgfältigere Überwachung, als der gutmüthige Knabe, dessen reine Seele unverhüllt in dem offenen Spiegel seiner Worte lag, und diese Eigenschaft des Kindes war es auch vielleicht, warum er ihn lieber aus dem Bereiche jedes unlauteren Eindruckes ferne hielt. Jetzt aber, wo die letzte Pflicht erfüllt war, konnte er endlich seinem Sohne leben und diesem Sohn Alles sein und ihn Alles für sich sein lassen, was er nur je für ihn und von ihm geträumt. Und unter dem Wortschwalle Otto's, der mit dem treuen und doch so nachsichtigen Gedächtnis der Liebe alle Vorzüge und reizenden Liebenswürdigkeiten der ihm so unähnlichen Schwester in das glänzendste Licht zu stellen sich befliß, hing des Vaters Blick an seinen Zügen und verfolgte in ihnen mit sonderbarer Rührung eine schwache Ähnlichkeit mit einem früh verstorbenen Bruder, der ihn aus seinen Kinderjahren durch Otto's klare Augen wieder anzulächeln schien. Es war eine Aehnlichkeit, die, süß in sich, doch sein Herz in wehmüthiger Ahnung zusammenzog; denn er konnte sich nicht verhehlen, das aus dem kräftigen Knaben der Jüngling sich körperlich nicht in dem Grade entwickelt hatte, wie es für des Vaters Stolz und Freude zu wünschen war. Otto hatte vor Kurzem erst seine Studien absolvirt, und obgleich er eben keinen feurigen Geist besaß und das Studiren auch nicht gerade seine Neigung war, hatte er doch rasche und sogar glänzende Fortschritte darin gemacht. Das freie Leben als Jäger und Ökonom wäre weit mehr nach seiner Neigung gewesen, und er seufzte auch manchmal über die schweren Folianten, wenn er im Geist zu der reinen Lust, die seine Schwester unterdessen einsog, und zu den Wäldern und Feldern des väterlichen Gutes zurückging. Aber Studiren war für jetzt seine Pflicht, und so studirte er denn. Bei der angestrengten Arbeit aber hatte sein Gesicht sich ge-

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[0060] zung der Pflicht, die er sich auferlegt. Vielleicht dachte er auch, Leonie's besondere geistige Richtung verlange eine sorgfältigere Überwachung, als der gutmüthige Knabe, dessen reine Seele unverhüllt in dem offenen Spiegel seiner Worte lag, und diese Eigenschaft des Kindes war es auch vielleicht, warum er ihn lieber aus dem Bereiche jedes unlauteren Eindruckes ferne hielt. Jetzt aber, wo die letzte Pflicht erfüllt war, konnte er endlich seinem Sohne leben und diesem Sohn Alles sein und ihn Alles für sich sein lassen, was er nur je für ihn und von ihm geträumt. Und unter dem Wortschwalle Otto's, der mit dem treuen und doch so nachsichtigen Gedächtnis der Liebe alle Vorzüge und reizenden Liebenswürdigkeiten der ihm so unähnlichen Schwester in das glänzendste Licht zu stellen sich befliß, hing des Vaters Blick an seinen Zügen und verfolgte in ihnen mit sonderbarer Rührung eine schwache Ähnlichkeit mit einem früh verstorbenen Bruder, der ihn aus seinen Kinderjahren durch Otto's klare Augen wieder anzulächeln schien. Es war eine Aehnlichkeit, die, süß in sich, doch sein Herz in wehmüthiger Ahnung zusammenzog; denn er konnte sich nicht verhehlen, das aus dem kräftigen Knaben der Jüngling sich körperlich nicht in dem Grade entwickelt hatte, wie es für des Vaters Stolz und Freude zu wünschen war. Otto hatte vor Kurzem erst seine Studien absolvirt, und obgleich er eben keinen feurigen Geist besaß und das Studiren auch nicht gerade seine Neigung war, hatte er doch rasche und sogar glänzende Fortschritte darin gemacht. Das freie Leben als Jäger und Ökonom wäre weit mehr nach seiner Neigung gewesen, und er seufzte auch manchmal über die schweren Folianten, wenn er im Geist zu der reinen Lust, die seine Schwester unterdessen einsog, und zu den Wäldern und Feldern des väterlichen Gutes zurückging. Aber Studiren war für jetzt seine Pflicht, und so studirte er denn. Bei der angestrengten Arbeit aber hatte sein Gesicht sich ge-

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/60>, abgerufen am 04.12.2024.