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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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wenig Mühe, sich seiner zu erinnern. Bete für deinen Vater, daß er zu uns zurückkehre und glücklich sei! hatte seine Mutter jeden Abend seiner Kinderzeit ihm gesagt, wenn er, schlaftrunken zu ihren Füssen kniend, mit stammelnden Lippen gedankenlos ihr das kleine Abendgebet nachsprach. Aber die kindliche Bitte, der solche Allmacht zugeschrieben wird, und hinter welcher ein heiseres Gefühl sich bergen sollte, war unerhört verhallt, denn der Vater kehrte nicht zurück, und doch forderte einmal seine Mutter das Gebet nicht mehr von ihm. Bis dahin hatte er wenig aufgemerkt, doch ihr plötzliches Schweigen war wie ein Ruck, und heimlich faßte ihn ein Wundern an. Warum soll ich nicht mehr beten, daß der Vater kommen soll? frug er eines Abends die bleiche Frau, die, über ihn gebeugt, seine gefalteten Händchen in den ihrigen hielt.

Er ist zur Ruhe -- stören wir ihn nicht, war ihre Antwort gewesen, und oft nachher, wenn ihm das Wort einfiel, trat er plötzlich leiser auf, den Vater nicht in der Ruhe zu stören, von der ihm seine Mutter gesagt.

Darauf beschränkte sich aber auch Alles, was er von ihm wußte, und er hätte gar keinen Vater haben können, so wenig ließ dessen Verschwinden eine Lücke in seinem Herzen zurück. Ein froher, sorgloser Knabe wuchs er auf und füllte die öden Raume des väterlichen Schlosses mit aller lärmenden Freude einer gesunden Kinderzeit. Wenn er dann, vom Spiele erhitzt und müde, Ruhe und Erholung an der Seite der Mutter suchte, stieg wohl manchmal ein wehmüthiges Lächeln über ihr rührendes, früh verwelktes Gesicht.

Ja, sagte sie dann wohl, mit den feinen, weißen Händen in der dunklen Fülle seiner Locken wühlend, während sie ihm dabei lang und gedankenvoll in die hellen Augen sah, zu dem greisen Pfarrer des Dorfes, der des Knaben Lehrer war und Abends öfter eine

wenig Mühe, sich seiner zu erinnern. Bete für deinen Vater, daß er zu uns zurückkehre und glücklich sei! hatte seine Mutter jeden Abend seiner Kinderzeit ihm gesagt, wenn er, schlaftrunken zu ihren Füssen kniend, mit stammelnden Lippen gedankenlos ihr das kleine Abendgebet nachsprach. Aber die kindliche Bitte, der solche Allmacht zugeschrieben wird, und hinter welcher ein heiseres Gefühl sich bergen sollte, war unerhört verhallt, denn der Vater kehrte nicht zurück, und doch forderte einmal seine Mutter das Gebet nicht mehr von ihm. Bis dahin hatte er wenig aufgemerkt, doch ihr plötzliches Schweigen war wie ein Ruck, und heimlich faßte ihn ein Wundern an. Warum soll ich nicht mehr beten, daß der Vater kommen soll? frug er eines Abends die bleiche Frau, die, über ihn gebeugt, seine gefalteten Händchen in den ihrigen hielt.

Er ist zur Ruhe — stören wir ihn nicht, war ihre Antwort gewesen, und oft nachher, wenn ihm das Wort einfiel, trat er plötzlich leiser auf, den Vater nicht in der Ruhe zu stören, von der ihm seine Mutter gesagt.

Darauf beschränkte sich aber auch Alles, was er von ihm wußte, und er hätte gar keinen Vater haben können, so wenig ließ dessen Verschwinden eine Lücke in seinem Herzen zurück. Ein froher, sorgloser Knabe wuchs er auf und füllte die öden Raume des väterlichen Schlosses mit aller lärmenden Freude einer gesunden Kinderzeit. Wenn er dann, vom Spiele erhitzt und müde, Ruhe und Erholung an der Seite der Mutter suchte, stieg wohl manchmal ein wehmüthiges Lächeln über ihr rührendes, früh verwelktes Gesicht.

Ja, sagte sie dann wohl, mit den feinen, weißen Händen in der dunklen Fülle seiner Locken wühlend, während sie ihm dabei lang und gedankenvoll in die hellen Augen sah, zu dem greisen Pfarrer des Dorfes, der des Knaben Lehrer war und Abends öfter eine

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[0068] wenig Mühe, sich seiner zu erinnern. Bete für deinen Vater, daß er zu uns zurückkehre und glücklich sei! hatte seine Mutter jeden Abend seiner Kinderzeit ihm gesagt, wenn er, schlaftrunken zu ihren Füssen kniend, mit stammelnden Lippen gedankenlos ihr das kleine Abendgebet nachsprach. Aber die kindliche Bitte, der solche Allmacht zugeschrieben wird, und hinter welcher ein heiseres Gefühl sich bergen sollte, war unerhört verhallt, denn der Vater kehrte nicht zurück, und doch forderte einmal seine Mutter das Gebet nicht mehr von ihm. Bis dahin hatte er wenig aufgemerkt, doch ihr plötzliches Schweigen war wie ein Ruck, und heimlich faßte ihn ein Wundern an. Warum soll ich nicht mehr beten, daß der Vater kommen soll? frug er eines Abends die bleiche Frau, die, über ihn gebeugt, seine gefalteten Händchen in den ihrigen hielt. Er ist zur Ruhe — stören wir ihn nicht, war ihre Antwort gewesen, und oft nachher, wenn ihm das Wort einfiel, trat er plötzlich leiser auf, den Vater nicht in der Ruhe zu stören, von der ihm seine Mutter gesagt. Darauf beschränkte sich aber auch Alles, was er von ihm wußte, und er hätte gar keinen Vater haben können, so wenig ließ dessen Verschwinden eine Lücke in seinem Herzen zurück. Ein froher, sorgloser Knabe wuchs er auf und füllte die öden Raume des väterlichen Schlosses mit aller lärmenden Freude einer gesunden Kinderzeit. Wenn er dann, vom Spiele erhitzt und müde, Ruhe und Erholung an der Seite der Mutter suchte, stieg wohl manchmal ein wehmüthiges Lächeln über ihr rührendes, früh verwelktes Gesicht. Ja, sagte sie dann wohl, mit den feinen, weißen Händen in der dunklen Fülle seiner Locken wühlend, während sie ihm dabei lang und gedankenvoll in die hellen Augen sah, zu dem greisen Pfarrer des Dorfes, der des Knaben Lehrer war und Abends öfter eine

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/68>, abgerufen am 04.12.2024.