Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Die mächtige Stimme der Leidenschaften fing an seine Sinne zu verwirren, und es kam die Zeit, wo der sündig zierliche Fuß einer hübschen Grisette mehr Interesse für ihn gewann, als die gelehrteste Abhandlung über die Nothwendigkeit der Kasteiung des Fleisches. Und wenn er auch, eingedenk des Teufels, der darin verborgen lag, manchen koketten Blick, der ihn im Vorbeigehen traf, an seinen gesenkten Lidern abprallen ließ, sie drangen ihm nur um so sicherer durch alle Adern in das unruhig klopfende Herz. Ja, er bedurfte eigentlich auch seiner Augen nicht, um zu sehen; es war, als sei ihm ein sechster Sinn geworden, der für ihn mit zehnfacher Schärfe hörte und sah, und wenn er Augen und Ohren noch so fest verschloss. Erschrocken über sich selbst, suchte er des Versuchers los zu werden, der mit so starken Banden ihn gefangen zu nehmen drohte. Buße und Beichte waren die natürliche Zuflucht, die sich ihm bot; aber Buße und Beichte, die sein Herz ob so manchen kleinen Fehlers leicht gemacht, halfen ihm nicht gegen die Stimme der Natur. Adams Sünde war ihm nicht so unverzeihlich mehr, er begriff, daß er den Apfel aß, da ja Eva ihn reichte, und der heilige Antonius in der Wüste verlor viel von der Glorie, die er für seine unerfahrenen Augen gehabt.

Allein, vor dem schmählichen Umsturze aller seiner Grundsätze sollte der zukünftige Heilige durch ein kräftigeres Mittel bewahrt werden, als Buße oder Beichte es war. Seine Mutter, welche die Veränderung ihrer Lebensweise und so manche Entbehrung, die ihr das kostspielige Leben in der Stadt auferlegte, bis jetzt schweigend ertragen, fing an, sichtlich zusammenzubrechen, und für Louis sanken alle neueren Wünsche in Vergessenheit vor dem Einen herrschenden Wunsche, sie am Leben zu erhalten um jeden Preis. Und es war fast, als besäße seine Liebe diese Wunderkraft.

Sie schien sich zu erholen und athmete neu belebt die Lust der Heimath ein, zu welcher er sie zurückge-

Die mächtige Stimme der Leidenschaften fing an seine Sinne zu verwirren, und es kam die Zeit, wo der sündig zierliche Fuß einer hübschen Grisette mehr Interesse für ihn gewann, als die gelehrteste Abhandlung über die Nothwendigkeit der Kasteiung des Fleisches. Und wenn er auch, eingedenk des Teufels, der darin verborgen lag, manchen koketten Blick, der ihn im Vorbeigehen traf, an seinen gesenkten Lidern abprallen ließ, sie drangen ihm nur um so sicherer durch alle Adern in das unruhig klopfende Herz. Ja, er bedurfte eigentlich auch seiner Augen nicht, um zu sehen; es war, als sei ihm ein sechster Sinn geworden, der für ihn mit zehnfacher Schärfe hörte und sah, und wenn er Augen und Ohren noch so fest verschloss. Erschrocken über sich selbst, suchte er des Versuchers los zu werden, der mit so starken Banden ihn gefangen zu nehmen drohte. Buße und Beichte waren die natürliche Zuflucht, die sich ihm bot; aber Buße und Beichte, die sein Herz ob so manchen kleinen Fehlers leicht gemacht, halfen ihm nicht gegen die Stimme der Natur. Adams Sünde war ihm nicht so unverzeihlich mehr, er begriff, daß er den Apfel aß, da ja Eva ihn reichte, und der heilige Antonius in der Wüste verlor viel von der Glorie, die er für seine unerfahrenen Augen gehabt.

Allein, vor dem schmählichen Umsturze aller seiner Grundsätze sollte der zukünftige Heilige durch ein kräftigeres Mittel bewahrt werden, als Buße oder Beichte es war. Seine Mutter, welche die Veränderung ihrer Lebensweise und so manche Entbehrung, die ihr das kostspielige Leben in der Stadt auferlegte, bis jetzt schweigend ertragen, fing an, sichtlich zusammenzubrechen, und für Louis sanken alle neueren Wünsche in Vergessenheit vor dem Einen herrschenden Wunsche, sie am Leben zu erhalten um jeden Preis. Und es war fast, als besäße seine Liebe diese Wunderkraft.

Sie schien sich zu erholen und athmete neu belebt die Lust der Heimath ein, zu welcher er sie zurückge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0071"/>
Die mächtige Stimme der      Leidenschaften fing an seine Sinne zu verwirren, und es kam die Zeit, wo der sündig zierliche      Fuß einer hübschen Grisette mehr Interesse für ihn gewann, als die gelehrteste Abhandlung über      die Nothwendigkeit der Kasteiung des Fleisches. Und wenn er auch, eingedenk des Teufels, der      darin verborgen lag, manchen koketten Blick, der ihn im Vorbeigehen traf, an seinen gesenkten      Lidern abprallen ließ, sie drangen ihm nur um so sicherer durch alle Adern in das unruhig      klopfende Herz. Ja, er bedurfte eigentlich auch seiner Augen nicht, um zu sehen; es war, als      sei ihm ein sechster Sinn geworden, der für ihn mit zehnfacher Schärfe hörte und sah, und wenn      er Augen und Ohren noch so fest verschloss. Erschrocken über sich selbst, suchte er des      Versuchers los zu werden, der mit so starken Banden ihn gefangen zu nehmen drohte. Buße und      Beichte waren die natürliche Zuflucht, die sich ihm bot; aber Buße und Beichte, die sein Herz      ob so manchen kleinen Fehlers leicht gemacht, halfen ihm nicht gegen die Stimme der Natur.      Adams Sünde war ihm nicht so unverzeihlich mehr, er begriff, daß er den Apfel aß, da ja Eva ihn      reichte, und der heilige Antonius in der Wüste verlor viel von der Glorie, die er für seine      unerfahrenen Augen gehabt.</p><lb/>
        <p>Allein, vor dem schmählichen Umsturze aller seiner Grundsätze sollte der zukünftige Heilige      durch ein kräftigeres Mittel bewahrt werden, als Buße oder Beichte es war. Seine Mutter, welche      die Veränderung ihrer Lebensweise und so manche Entbehrung, die ihr das kostspielige Leben in      der Stadt auferlegte, bis jetzt schweigend ertragen, fing an, sichtlich zusammenzubrechen, und      für Louis sanken alle neueren Wünsche in Vergessenheit vor dem Einen herrschenden Wunsche, sie      am Leben zu erhalten um jeden Preis. Und es war fast, als besäße seine Liebe diese      Wunderkraft.</p><lb/>
        <p>Sie schien sich zu erholen und athmete neu belebt die Lust der Heimath ein, zu welcher er sie      zurückge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] Die mächtige Stimme der Leidenschaften fing an seine Sinne zu verwirren, und es kam die Zeit, wo der sündig zierliche Fuß einer hübschen Grisette mehr Interesse für ihn gewann, als die gelehrteste Abhandlung über die Nothwendigkeit der Kasteiung des Fleisches. Und wenn er auch, eingedenk des Teufels, der darin verborgen lag, manchen koketten Blick, der ihn im Vorbeigehen traf, an seinen gesenkten Lidern abprallen ließ, sie drangen ihm nur um so sicherer durch alle Adern in das unruhig klopfende Herz. Ja, er bedurfte eigentlich auch seiner Augen nicht, um zu sehen; es war, als sei ihm ein sechster Sinn geworden, der für ihn mit zehnfacher Schärfe hörte und sah, und wenn er Augen und Ohren noch so fest verschloss. Erschrocken über sich selbst, suchte er des Versuchers los zu werden, der mit so starken Banden ihn gefangen zu nehmen drohte. Buße und Beichte waren die natürliche Zuflucht, die sich ihm bot; aber Buße und Beichte, die sein Herz ob so manchen kleinen Fehlers leicht gemacht, halfen ihm nicht gegen die Stimme der Natur. Adams Sünde war ihm nicht so unverzeihlich mehr, er begriff, daß er den Apfel aß, da ja Eva ihn reichte, und der heilige Antonius in der Wüste verlor viel von der Glorie, die er für seine unerfahrenen Augen gehabt. Allein, vor dem schmählichen Umsturze aller seiner Grundsätze sollte der zukünftige Heilige durch ein kräftigeres Mittel bewahrt werden, als Buße oder Beichte es war. Seine Mutter, welche die Veränderung ihrer Lebensweise und so manche Entbehrung, die ihr das kostspielige Leben in der Stadt auferlegte, bis jetzt schweigend ertragen, fing an, sichtlich zusammenzubrechen, und für Louis sanken alle neueren Wünsche in Vergessenheit vor dem Einen herrschenden Wunsche, sie am Leben zu erhalten um jeden Preis. Und es war fast, als besäße seine Liebe diese Wunderkraft. Sie schien sich zu erholen und athmete neu belebt die Lust der Heimath ein, zu welcher er sie zurückge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/71
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/71>, abgerufen am 04.12.2024.