C. Allgemeine Betrachtung über die Zier- lichkeit an Weiblichen Figuren.
An der Zeichnung bekleideter Figuren hat zwar der feine Sinn und die Empfindung, so wohl im Bemerken und Lehren, als im Nachahmen, weniger Antheil, als die aufmerksame Beobachtung und das Wissen; aber der Kenner hat in diesem Theile der Kunst nicht weniger zu erforschen, als der Künstler. Bekleidung ist hier gegen das Nackende, wie die Ausdrü- cke der Gedanken, das ist, wie die Einkleidung derselben, gegen die Ge- danken selbst; es kostet oft weniger Mühe, diesen, als jene, zu finden. Da nun in den ältesten Zeiten der Griechischen Kunst mehr bekleidete, als nackte Figuren gemacht wurden, und dieses in Weiblichen Figuren auch in den schönsten Zeiten derselben blieb, also daß man eine einzige nackte Figur ge- gen funfzig bekleidete rechnen kann: so gieng auch der Künstler Suchen zu allen Zeiten nicht weniger auf die Zierlichkeit der Bekleidung, als auf die Schönheit des Nackenden. Die Gratie wurde nicht allein in Gebehr- den und Handlungen, sondern auch in der Kleidung gesuchet, (wie denn die ältesten Gratien bekleidet gebildet waren) und wenn zu unsern Zeiten die Schönheit der Zeichnung des Nackenden aus vier oder fünf der schön- sten Statuen zu erlernen wäre, so muß der Künstler die Bekleidung in hundert derselben studiren. Denn es ist schwerlich eine der andern in der Bekleidung gleich, da sich hingegen viele nackte Statuen völlig ähnlich finden, wie die mehresten Venus sind; eben so scheinen verschiedene Sta- tuen des Apollo nach eben demselben Modelle gearbeitet, wie drey ähnliche in der Villa Medicis, und ein anderer im Campidoglio, sind, und die- ses gilt auch von den mehresten jungen Figuren. Es ist also die Zeich- nung bekleideter Figuren mit allem Rechte ein wesentliches Theil der Kunst zu nennen.
Drittes
I Theil. Viertes Capitel.
C. Allgemeine Betrachtung uͤber die Zier- lichkeit an Weiblichen Figuren.
An der Zeichnung bekleideter Figuren hat zwar der feine Sinn und die Empfindung, ſo wohl im Bemerken und Lehren, als im Nachahmen, weniger Antheil, als die aufmerkſame Beobachtung und das Wiſſen; aber der Kenner hat in dieſem Theile der Kunſt nicht weniger zu erforſchen, als der Kuͤnſtler. Bekleidung iſt hier gegen das Nackende, wie die Ausdruͤ- cke der Gedanken, das iſt, wie die Einkleidung derſelben, gegen die Ge- danken ſelbſt; es koſtet oft weniger Muͤhe, dieſen, als jene, zu finden. Da nun in den aͤlteſten Zeiten der Griechiſchen Kunſt mehr bekleidete, als nackte Figuren gemacht wurden, und dieſes in Weiblichen Figuren auch in den ſchoͤnſten Zeiten derſelben blieb, alſo daß man eine einzige nackte Figur ge- gen funfzig bekleidete rechnen kann: ſo gieng auch der Kuͤnſtler Suchen zu allen Zeiten nicht weniger auf die Zierlichkeit der Bekleidung, als auf die Schoͤnheit des Nackenden. Die Gratie wurde nicht allein in Gebehr- den und Handlungen, ſondern auch in der Kleidung geſuchet, (wie denn die aͤlteſten Gratien bekleidet gebildet waren) und wenn zu unſern Zeiten die Schoͤnheit der Zeichnung des Nackenden aus vier oder fuͤnf der ſchoͤn- ſten Statuen zu erlernen waͤre, ſo muß der Kuͤnſtler die Bekleidung in hundert derſelben ſtudiren. Denn es iſt ſchwerlich eine der andern in der Bekleidung gleich, da ſich hingegen viele nackte Statuen voͤllig aͤhnlich finden, wie die mehreſten Venus ſind; eben ſo ſcheinen verſchiedene Sta- tuen des Apollo nach eben demſelben Modelle gearbeitet, wie drey aͤhnliche in der Villa Medicis, und ein anderer im Campidoglio, ſind, und die- ſes gilt auch von den mehreſten jungen Figuren. Es iſt alſo die Zeich- nung bekleideter Figuren mit allem Rechte ein weſentliches Theil der Kunſt zu nennen.
Drittes
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I Theil. Viertes Capitel.
An der Zeichnung bekleideter Figuren hat zwar der feine Sinn und
die Empfindung, ſo wohl im Bemerken und Lehren, als im Nachahmen,
weniger Antheil, als die aufmerkſame Beobachtung und das Wiſſen; aber
der Kenner hat in dieſem Theile der Kunſt nicht weniger zu erforſchen, als
der Kuͤnſtler. Bekleidung iſt hier gegen das Nackende, wie die Ausdruͤ-
cke der Gedanken, das iſt, wie die Einkleidung derſelben, gegen die Ge-
danken ſelbſt; es koſtet oft weniger Muͤhe, dieſen, als jene, zu finden. Da
nun in den aͤlteſten Zeiten der Griechiſchen Kunſt mehr bekleidete, als nackte
Figuren gemacht wurden, und dieſes in Weiblichen Figuren auch in den
ſchoͤnſten Zeiten derſelben blieb, alſo daß man eine einzige nackte Figur ge-
gen funfzig bekleidete rechnen kann: ſo gieng auch der Kuͤnſtler Suchen
zu allen Zeiten nicht weniger auf die Zierlichkeit der Bekleidung, als auf
die Schoͤnheit des Nackenden. Die Gratie wurde nicht allein in Gebehr-
den und Handlungen, ſondern auch in der Kleidung geſuchet, (wie denn
die aͤlteſten Gratien bekleidet gebildet waren) und wenn zu unſern Zeiten
die Schoͤnheit der Zeichnung des Nackenden aus vier oder fuͤnf der ſchoͤn-
ſten Statuen zu erlernen waͤre, ſo muß der Kuͤnſtler die Bekleidung in
hundert derſelben ſtudiren. Denn es iſt ſchwerlich eine der andern in der
Bekleidung gleich, da ſich hingegen viele nackte Statuen voͤllig aͤhnlich
finden, wie die mehreſten Venus ſind; eben ſo ſcheinen verſchiedene Sta-
tuen des Apollo nach eben demſelben Modelle gearbeitet, wie drey aͤhnliche
in der Villa Medicis, und ein anderer im Campidoglio, ſind, und die-
ſes gilt auch von den mehreſten jungen Figuren. Es iſt alſo die Zeich-
nung bekleideter Figuren mit allem Rechte ein weſentliches Theil der
Kunſt zu nennen.
Drittes
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/262>, abgerufen am 24.11.2024.
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