Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Kunst unter den Griechen.
beiten, erhalten hätten, aus welchen wir die älteste Art ihre Figuren zusam-
men zu stellen, und hieraus den Grad des Ausdrucks der Gemüthsbewe-
gungen, erkennen könnten. Wenn wir aber wie von dem Nachdrucke in
Angebung der Theile an ihren kleinen Figuren auf Münzen, auf größere,
auch auf den nachdrücklichen Ausdruck der Handlungen schließen dürfen,
so würden die Künstler dieses Stils ihren Figuren heftige Handlungen und
Stellungen gegeben haben; so wie die Menschen aus der Heldenzeit, von
welchen die Künstler ihre Vorwürfe machen, der Natur gemäß handelten,
und ohne ihren Neigungen Gewalt anzuthun. Dieses wird wahrschein-
lich durch Vergleichung mit den Hetrurischen Werken, denen jene ähnlich
gehalten werden.

Wir können überhaupt die Kennzeichen und Eigenschaften dieses äl-
tern Stils kürzlich also begreifen: die Zeichnung war nachdrücklich, aber
hart; mächtig, aber ohne Gratie, und der starke Ausdruck verminderte
die Schönheit. Dieses aber ist stuffenweis zu verstehen, da wir unter dem
ältern Stile den längsten Zeitlauf der Griechischen Kunst begreifen; so
daß die spätern Werke von den ersteren sehr verschieden gewesen seyn werden.

Dieser Stil würde bis in die Zeiten, da die Kunst in Griechenland
blühete, gedauert haben, wenn dasjenige keinen Widerspruch litte, was
Athenäus vom Stesichorus vorgiebt 1), daß dieser Dichter der erste ge-
wesen, welcher den Hercules mit der Keule und mit dem Bogen vorge-
stellet: denn es finden sich viele geschnittene Steine mit einem so bewaffne-

ten
auf den andern Gefäßen, sondern eingegraben; und auf einem andern Gefäße in eben
dieser Sammlang ist das Wort DORDONOS mit großen Buchstaben eingeschnitteu.
Die Inschrift MAKsIMOS EGRAPsE auf einem gemalten Gefäße in der ehema-
ligen Sammlung des Rechtsgelehrten Joseph Valetta, zu Neapel, kann ebenfalls
Zweifel über deren Richtigkeit erwecken. Wohin dieses Gefäß gekommen, habe ich
nicht erfahren können; in der Vaticanischen Bibliothec, wo die übrigen Valettischen
Gefäße sind, befindet es sich nicht.
1) Deipn. L. 12. p. 512. E. conf. Deser. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 275.
E e 3

Von der Kunſt unter den Griechen.
beiten, erhalten haͤtten, aus welchen wir die aͤlteſte Art ihre Figuren zuſam-
men zu ſtellen, und hieraus den Grad des Ausdrucks der Gemuͤthsbewe-
gungen, erkennen koͤnnten. Wenn wir aber wie von dem Nachdrucke in
Angebung der Theile an ihren kleinen Figuren auf Muͤnzen, auf groͤßere,
auch auf den nachdruͤcklichen Ausdruck der Handlungen ſchließen duͤrfen,
ſo wuͤrden die Kuͤnſtler dieſes Stils ihren Figuren heftige Handlungen und
Stellungen gegeben haben; ſo wie die Menſchen aus der Heldenzeit, von
welchen die Kuͤnſtler ihre Vorwuͤrfe machen, der Natur gemaͤß handelten,
und ohne ihren Neigungen Gewalt anzuthun. Dieſes wird wahrſchein-
lich durch Vergleichung mit den Hetruriſchen Werken, denen jene aͤhnlich
gehalten werden.

Wir koͤnnen uͤberhaupt die Kennzeichen und Eigenſchaften dieſes aͤl-
tern Stils kuͤrzlich alſo begreifen: die Zeichnung war nachdruͤcklich, aber
hart; maͤchtig, aber ohne Gratie, und der ſtarke Ausdruck verminderte
die Schoͤnheit. Dieſes aber iſt ſtuffenweis zu verſtehen, da wir unter dem
aͤltern Stile den laͤngſten Zeitlauf der Griechiſchen Kunſt begreifen; ſo
daß die ſpaͤtern Werke von den erſteren ſehr verſchieden geweſen ſeyn werden.

Dieſer Stil wuͤrde bis in die Zeiten, da die Kunſt in Griechenland
bluͤhete, gedauert haben, wenn dasjenige keinen Widerſpruch litte, was
Athenaͤus vom Steſichorus vorgiebt 1), daß dieſer Dichter der erſte ge-
weſen, welcher den Hercules mit der Keule und mit dem Bogen vorge-
ſtellet: denn es finden ſich viele geſchnittene Steine mit einem ſo bewaffne-

ten
auf den andern Gefaͤßen, ſondern eingegraben; und auf einem andern Gefaͤße in eben
dieſer Sammlang iſt das Wort ΔΟΡΔΩΝΟΣ mit großen Buchſtaben eingeſchnitteu.
Die Inſchrift ΜΑΞΙΜΟΣ ΕΓΡΑΨΕ auf einem gemalten Gefaͤße in der ehema-
ligen Sammlung des Rechtsgelehrten Joſeph Valetta, zu Neapel, kann ebenfalls
Zweifel uͤber deren Richtigkeit erwecken. Wohin dieſes Gefaͤß gekommen, habe ich
nicht erfahren koͤnnen; in der Vaticaniſchen Bibliothec, wo die uͤbrigen Valettiſchen
Gefaͤße ſind, befindet es ſich nicht.
1) Deipn. L. 12. p. 512. E. conf. Deſer. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 275.
E e 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0271" n="221"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Kun&#x017F;t unter den Griechen.</hi></fw><lb/>
beiten, erhalten ha&#x0364;tten, aus welchen wir die a&#x0364;lte&#x017F;te Art ihre Figuren zu&#x017F;am-<lb/>
men zu &#x017F;tellen, und hieraus den Grad des Ausdrucks der Gemu&#x0364;thsbewe-<lb/>
gungen, erkennen ko&#x0364;nnten. Wenn wir aber wie von dem Nachdrucke in<lb/>
Angebung der Theile an ihren kleinen Figuren auf Mu&#x0364;nzen, auf gro&#x0364;ßere,<lb/>
auch auf den nachdru&#x0364;cklichen Ausdruck der Handlungen &#x017F;chließen du&#x0364;rfen,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rden die Ku&#x0364;n&#x017F;tler die&#x017F;es Stils ihren Figuren heftige Handlungen und<lb/>
Stellungen gegeben haben; &#x017F;o wie die Men&#x017F;chen aus der Heldenzeit, von<lb/>
welchen die Ku&#x0364;n&#x017F;tler ihre Vorwu&#x0364;rfe machen, der Natur gema&#x0364;ß handelten,<lb/>
und ohne ihren Neigungen Gewalt anzuthun. Die&#x017F;es wird wahr&#x017F;chein-<lb/>
lich durch Vergleichung mit den Hetruri&#x017F;chen Werken, denen jene a&#x0364;hnlich<lb/>
gehalten werden.</p><lb/>
              <p>Wir ko&#x0364;nnen u&#x0364;berhaupt die Kennzeichen und Eigen&#x017F;chaften die&#x017F;es a&#x0364;l-<lb/>
tern Stils ku&#x0364;rzlich al&#x017F;o begreifen: die Zeichnung war nachdru&#x0364;cklich, aber<lb/>
hart; ma&#x0364;chtig, aber ohne Gratie, und der &#x017F;tarke Ausdruck verminderte<lb/>
die Scho&#x0364;nheit. Die&#x017F;es aber i&#x017F;t &#x017F;tuffenweis zu ver&#x017F;tehen, da wir unter dem<lb/>
a&#x0364;ltern Stile den la&#x0364;ng&#x017F;ten Zeitlauf der Griechi&#x017F;chen Kun&#x017F;t begreifen; &#x017F;o<lb/>
daß die &#x017F;pa&#x0364;tern Werke von den er&#x017F;teren &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden gewe&#x017F;en &#x017F;eyn werden.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;er Stil wu&#x0364;rde bis in die Zeiten, da die Kun&#x017F;t in Griechenland<lb/>
blu&#x0364;hete, gedauert haben, wenn dasjenige keinen Wider&#x017F;pruch litte, was<lb/>
Athena&#x0364;us vom <hi rendition="#fr">Ste&#x017F;ichorus</hi> vorgiebt <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Deipn. L. 12. p. 512. E. conf. De&#x017F;er. des Pier. gr. du Cab. de Sto&#x017F;ch, p.</hi> 275.</note>, daß die&#x017F;er Dichter der er&#x017F;te ge-<lb/>
we&#x017F;en, welcher den Hercules mit der Keule und mit dem Bogen vorge-<lb/>
&#x017F;tellet: denn es finden &#x017F;ich viele ge&#x017F;chnittene Steine mit einem &#x017F;o bewaffne-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_2_2" prev="#seg2pn_2_1" place="foot" n="4)">auf den andern Gefa&#x0364;ßen, &#x017F;ondern eingegraben; und auf einem andern Gefa&#x0364;ße in eben<lb/>
die&#x017F;er Sammlang i&#x017F;t das Wort &#x0394;&#x039F;&#x03A1;&#x0394;&#x03A9;&#x039D;&#x039F;&#x03A3; mit großen Buch&#x017F;taben einge&#x017F;chnitteu.<lb/>
Die In&#x017F;chrift &#x039C;&#x0391;&#x039E;&#x0399;&#x039C;&#x039F;&#x03A3; &#x0395;&#x0393;&#x03A1;&#x0391;&#x03A8;&#x0395; auf einem gemalten Gefa&#x0364;ße in der ehema-<lb/>
ligen Sammlung des Rechtsgelehrten Jo&#x017F;eph <hi rendition="#fr">Valetta,</hi> zu Neapel, kann ebenfalls<lb/>
Zweifel u&#x0364;ber deren Richtigkeit erwecken. Wohin die&#x017F;es Gefa&#x0364;ß gekommen, habe ich<lb/>
nicht erfahren ko&#x0364;nnen; in der Vaticani&#x017F;chen Bibliothec, wo die u&#x0364;brigen Valetti&#x017F;chen<lb/>
Gefa&#x0364;ße &#x017F;ind, befindet es &#x017F;ich nicht.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[221/0271] Von der Kunſt unter den Griechen. beiten, erhalten haͤtten, aus welchen wir die aͤlteſte Art ihre Figuren zuſam- men zu ſtellen, und hieraus den Grad des Ausdrucks der Gemuͤthsbewe- gungen, erkennen koͤnnten. Wenn wir aber wie von dem Nachdrucke in Angebung der Theile an ihren kleinen Figuren auf Muͤnzen, auf groͤßere, auch auf den nachdruͤcklichen Ausdruck der Handlungen ſchließen duͤrfen, ſo wuͤrden die Kuͤnſtler dieſes Stils ihren Figuren heftige Handlungen und Stellungen gegeben haben; ſo wie die Menſchen aus der Heldenzeit, von welchen die Kuͤnſtler ihre Vorwuͤrfe machen, der Natur gemaͤß handelten, und ohne ihren Neigungen Gewalt anzuthun. Dieſes wird wahrſchein- lich durch Vergleichung mit den Hetruriſchen Werken, denen jene aͤhnlich gehalten werden. Wir koͤnnen uͤberhaupt die Kennzeichen und Eigenſchaften dieſes aͤl- tern Stils kuͤrzlich alſo begreifen: die Zeichnung war nachdruͤcklich, aber hart; maͤchtig, aber ohne Gratie, und der ſtarke Ausdruck verminderte die Schoͤnheit. Dieſes aber iſt ſtuffenweis zu verſtehen, da wir unter dem aͤltern Stile den laͤngſten Zeitlauf der Griechiſchen Kunſt begreifen; ſo daß die ſpaͤtern Werke von den erſteren ſehr verſchieden geweſen ſeyn werden. Dieſer Stil wuͤrde bis in die Zeiten, da die Kunſt in Griechenland bluͤhete, gedauert haben, wenn dasjenige keinen Widerſpruch litte, was Athenaͤus vom Steſichorus vorgiebt 1), daß dieſer Dichter der erſte ge- weſen, welcher den Hercules mit der Keule und mit dem Bogen vorge- ſtellet: denn es finden ſich viele geſchnittene Steine mit einem ſo bewaffne- ten 4) 1) Deipn. L. 12. p. 512. E. conf. Deſer. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 275. 4) auf den andern Gefaͤßen, ſondern eingegraben; und auf einem andern Gefaͤße in eben dieſer Sammlang iſt das Wort ΔΟΡΔΩΝΟΣ mit großen Buchſtaben eingeſchnitteu. Die Inſchrift ΜΑΞΙΜΟΣ ΕΓΡΑΨΕ auf einem gemalten Gefaͤße in der ehema- ligen Sammlung des Rechtsgelehrten Joſeph Valetta, zu Neapel, kann ebenfalls Zweifel uͤber deren Richtigkeit erwecken. Wohin dieſes Gefaͤß gekommen, habe ich nicht erfahren koͤnnen; in der Vaticaniſchen Bibliothec, wo die uͤbrigen Valettiſchen Gefaͤße ſind, befindet es ſich nicht. E e 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/271
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/271>, abgerufen am 24.11.2024.