Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Viertes Capitel. seus giebt nicht den Begriff von der Schönheit dieses jungen Helden, wel-cher unerkannt zu Athen bey seiner Ankunft für eine Junfrau gehalten wurde 1). Ich wünschte ihn zu sehen mit langen fliegenden Haaren, so wie Theseus so wohl, als Jason, da dieser in Athen zum erstenmal ankam, trugen. Theseus sollte dem Jason, welchen Pindarus malt 2), ähnlich sehen, über dessen Schönheit das ganze Volk erstaunete, und glaubte, Apollo, Bacchus, oder Mars, wäre ihnen erschienen. Im Telephus sieht Hercules keinem Griechischen Alcides ähnlich, und die übrigen Köpfe sind gemein. Achilles stehet ruhig und gelassen, aber sein Gesicht giebt viel zu denken: es ist in den Zügen desselben eine viel versprechende Ankündigung des künftigen Helden, und man liest in den Augen, welche mit großer Auf- merksamkeit auf den Chiron gerichtet sind, eine voraus eilende Lehrbegier- de, um den Lauf seiner jugendlichen Unterrichtung zu endigen, und sein ihm kurz gesetztes Ziel der Jahre mit großen Thaten merkwürdig zu machen. In der Stirne erscheinet eine edle Schaam, und ein Vorwurf der Unfähig- keit, da ihm sein Lehrer das Plectrum zum Saytenschlagen aus der Hand genommen, und ihn verbessern will, wo er gefehlet. Er ist schön nach dem Sinne des Aristoteles 3); die Süßigkeit und der Reiz der Ju- gend sind mit Stolz und Empfindlichkeit vermischet. In dem Kupfer die- ses Gemäldes denket Achilles wenig, und sieht in die weite Welt hinein, da er die Augen auf den Chiron gerichtet haben sollte. Es wäre zu wünschen, daß vier Zeichnungen daselbst auf Marmor, de 1) Pausan. L. 1. p. 40. l. 11. 2) Pind. Pyth. 4. 3) Rhet. L. 1. p. 21. l. 10. ed. Opp. Sylburg. T. 1.
I Theil. Viertes Capitel. ſeus giebt nicht den Begriff von der Schoͤnheit dieſes jungen Helden, wel-cher unerkannt zu Athen bey ſeiner Ankunft fuͤr eine Junfrau gehalten wurde 1). Ich wuͤnſchte ihn zu ſehen mit langen fliegenden Haaren, ſo wie Theſeus ſo wohl, als Jaſon, da dieſer in Athen zum erſtenmal ankam, trugen. Theſeus ſollte dem Jaſon, welchen Pindarus malt 2), aͤhnlich ſehen, uͤber deſſen Schoͤnheit das ganze Volk erſtaunete, und glaubte, Apollo, Bacchus, oder Mars, waͤre ihnen erſchienen. Im Telephus ſieht Hercules keinem Griechiſchen Alcides aͤhnlich, und die uͤbrigen Koͤpfe ſind gemein. Achilles ſtehet ruhig und gelaſſen, aber ſein Geſicht giebt viel zu denken: es iſt in den Zuͤgen deſſelben eine viel verſprechende Ankuͤndigung des kuͤnftigen Helden, und man lieſt in den Augen, welche mit großer Auf- merkſamkeit auf den Chiron gerichtet ſind, eine voraus eilende Lehrbegier- de, um den Lauf ſeiner jugendlichen Unterrichtung zu endigen, und ſein ihm kurz geſetztes Ziel der Jahre mit großen Thaten merkwuͤrdig zu machen. In der Stirne erſcheinet eine edle Schaam, und ein Vorwurf der Unfaͤhig- keit, da ihm ſein Lehrer das Plectrum zum Saytenſchlagen aus der Hand genommen, und ihn verbeſſern will, wo er gefehlet. Er iſt ſchoͤn nach dem Sinne des Ariſtoteles 3); die Suͤßigkeit und der Reiz der Ju- gend ſind mit Stolz und Empfindlichkeit vermiſchet. In dem Kupfer die- ſes Gemaͤldes denket Achilles wenig, und ſieht in die weite Welt hinein, da er die Augen auf den Chiron gerichtet haben ſollte. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß vier Zeichnungen daſelbſt auf Marmor, de 1) Pauſan. L. 1. p. 40. l. 11. 2) Pind. Pyth. 4. 3) Rhet. L. 1. p. 21. l. 10. ed. Opp. Sylburg. T. 1.
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I Theil. Viertes Capitel.
ſeus giebt nicht den Begriff von der Schoͤnheit dieſes jungen Helden, wel-
cher unerkannt zu Athen bey ſeiner Ankunft fuͤr eine Junfrau gehalten
wurde 1). Ich wuͤnſchte ihn zu ſehen mit langen fliegenden Haaren, ſo
wie Theſeus ſo wohl, als Jaſon, da dieſer in Athen zum erſtenmal ankam,
trugen. Theſeus ſollte dem Jaſon, welchen Pindarus malt 2), aͤhnlich
ſehen, uͤber deſſen Schoͤnheit das ganze Volk erſtaunete, und glaubte,
Apollo, Bacchus, oder Mars, waͤre ihnen erſchienen. Im Telephus ſieht
Hercules keinem Griechiſchen Alcides aͤhnlich, und die uͤbrigen Koͤpfe ſind
gemein. Achilles ſtehet ruhig und gelaſſen, aber ſein Geſicht giebt viel zu
denken: es iſt in den Zuͤgen deſſelben eine viel verſprechende Ankuͤndigung
des kuͤnftigen Helden, und man lieſt in den Augen, welche mit großer Auf-
merkſamkeit auf den Chiron gerichtet ſind, eine voraus eilende Lehrbegier-
de, um den Lauf ſeiner jugendlichen Unterrichtung zu endigen, und ſein
ihm kurz geſetztes Ziel der Jahre mit großen Thaten merkwuͤrdig zu machen.
In der Stirne erſcheinet eine edle Schaam, und ein Vorwurf der Unfaͤhig-
keit, da ihm ſein Lehrer das Plectrum zum Saytenſchlagen aus der
Hand genommen, und ihn verbeſſern will, wo er gefehlet. Er iſt ſchoͤn
nach dem Sinne des Ariſtoteles 3); die Suͤßigkeit und der Reiz der Ju-
gend ſind mit Stolz und Empfindlichkeit vermiſchet. In dem Kupfer die-
ſes Gemaͤldes denket Achilles wenig, und ſieht in die weite Welt hinein,
da er die Augen auf den Chiron gerichtet haben ſollte.
Es waͤre zu wuͤnſchen, daß vier Zeichnungen daſelbſt auf Marmor,
unter welchen eine mit dem Namen des Malers und der Figuren, welche ſie
vorſtellen, bezeichnet iſt, von der Hand eines großen Meiſters waͤren:
der Kuͤnſtler heißt Alexander, und war von Athen. Es ſcheinet, daß die
andern drey Stuͤcke ebenfalls von deſſen Hand ſeyn; ſeine Arbeit aber
giebt keinen großen Begriff von ihm: die Koͤpfe ſind gemein, und die Haͤn-
de
1) Pauſan. L. 1. p. 40. l. 11.
2) Pind. Pyth. 4.
3) Rhet. L. 1. p. 21. l. 10. ed. Opp. Sylburg. T. 1.
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