Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Viertes Capitel.
Aber so wie das Wenige mehr oder weniger den Unterschied unter Künst-
lern macht, eben so zeigen die vermeynten Kleinigkeiten den aufmerksamen
Beobachter, und das Kleine führet zum Großen. Mit Betrachtungen
über die Kunst verhält es sich auch anders, als mit Untersuchungen der Ge-
lehrsamkeit in den Alterthümern. Hier ist schwer, etwas neues zu entde-
cken, und was öffentlich stehet, ist in dieser Absicht untersucht; aber dort
ist in dem bekanntesten etwas zu finden: denn Kunst ist nicht erschöpft.
Aber es ist das Schöne und das Nützliche nicht mit einem Blicke zu grei-
fen, wie ein unweiser Deutscher Maler nach ein paar Wochen seines
Aufenthals in Rom meynete: denn das Wichtige und Schwere gehet tief,
und fließet nicht auf der Fläche. Der erste Anblick schöner Statuen ist
bey dem, welcher Empfindung hat, wie die erste Aussicht auf das offene
Meer, worinn sich unser Blick verlieret, und starr wird, aber in wieder-
holter Betrachtung wird der Geist stiller, und das Auge ruhiger, und
gehet vom Ganzen auf das Einzelne. Man erkläre sich selbst die Werke
der Kunst auf eben die Art, wie man andern einen alten Scribenten er-
klären sollte: denn insgemein gehet es dort, wie in Lesung der Bücher;
man glaubet zu verstehen, was man liest, und man verstehet es nicht, wenn
man es deutlich auslegen soll. Ein anders ist, den Homerus lesen, ein
anders, ihn im Lesen zugleich übersetzen.



Das

I Theil. Viertes Capitel.
Aber ſo wie das Wenige mehr oder weniger den Unterſchied unter Kuͤnſt-
lern macht, eben ſo zeigen die vermeynten Kleinigkeiten den aufmerkſamen
Beobachter, und das Kleine fuͤhret zum Großen. Mit Betrachtungen
uͤber die Kunſt verhaͤlt es ſich auch anders, als mit Unterſuchungen der Ge-
lehrſamkeit in den Alterthuͤmern. Hier iſt ſchwer, etwas neues zu entde-
cken, und was oͤffentlich ſtehet, iſt in dieſer Abſicht unterſucht; aber dort
iſt in dem bekannteſten etwas zu finden: denn Kunſt iſt nicht erſchoͤpft.
Aber es iſt das Schoͤne und das Nuͤtzliche nicht mit einem Blicke zu grei-
fen, wie ein unweiſer Deutſcher Maler nach ein paar Wochen ſeines
Aufenthals in Rom meynete: denn das Wichtige und Schwere gehet tief,
und fließet nicht auf der Flaͤche. Der erſte Anblick ſchoͤner Statuen iſt
bey dem, welcher Empfindung hat, wie die erſte Ausſicht auf das offene
Meer, worinn ſich unſer Blick verlieret, und ſtarr wird, aber in wieder-
holter Betrachtung wird der Geiſt ſtiller, und das Auge ruhiger, und
gehet vom Ganzen auf das Einzelne. Man erklaͤre ſich ſelbſt die Werke
der Kunſt auf eben die Art, wie man andern einen alten Scribenten er-
klaͤren ſollte: denn insgemein gehet es dort, wie in Leſung der Buͤcher;
man glaubet zu verſtehen, was man lieſt, und man verſtehet es nicht, wenn
man es deutlich auslegen ſoll. Ein anders iſt, den Homerus leſen, ein
anders, ihn im Leſen zugleich uͤberſetzen.



Das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0338" n="288"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
Aber &#x017F;o wie das Wenige mehr oder weniger den Unter&#x017F;chied unter Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
lern macht, eben &#x017F;o zeigen die vermeynten Kleinigkeiten den aufmerk&#x017F;amen<lb/>
Beobachter, und das Kleine fu&#x0364;hret zum Großen. Mit Betrachtungen<lb/>
u&#x0364;ber die Kun&#x017F;t verha&#x0364;lt es &#x017F;ich auch anders, als mit Unter&#x017F;uchungen der Ge-<lb/>
lehr&#x017F;amkeit in den Alterthu&#x0364;mern. Hier i&#x017F;t &#x017F;chwer, etwas neues zu entde-<lb/>
cken, und was o&#x0364;ffentlich &#x017F;tehet, i&#x017F;t in die&#x017F;er Ab&#x017F;icht unter&#x017F;ucht; aber dort<lb/>
i&#x017F;t in dem bekannte&#x017F;ten etwas zu finden: denn Kun&#x017F;t i&#x017F;t nicht er&#x017F;cho&#x0364;pft.<lb/>
Aber es i&#x017F;t das Scho&#x0364;ne und das Nu&#x0364;tzliche nicht mit einem Blicke zu grei-<lb/>
fen, wie ein unwei&#x017F;er Deut&#x017F;cher Maler nach ein paar Wochen &#x017F;eines<lb/>
Aufenthals in Rom meynete: denn das Wichtige und Schwere gehet tief,<lb/>
und fließet nicht auf der Fla&#x0364;che. Der er&#x017F;te Anblick &#x017F;cho&#x0364;ner Statuen i&#x017F;t<lb/>
bey dem, welcher Empfindung hat, wie die er&#x017F;te Aus&#x017F;icht auf das offene<lb/>
Meer, worinn &#x017F;ich un&#x017F;er Blick verlieret, und &#x017F;tarr wird, aber in wieder-<lb/>
holter Betrachtung wird der Gei&#x017F;t &#x017F;tiller, und das Auge ruhiger, und<lb/>
gehet vom Ganzen auf das Einzelne. Man erkla&#x0364;re &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t die Werke<lb/>
der Kun&#x017F;t auf eben die Art, wie man andern einen alten Scribenten er-<lb/>
kla&#x0364;ren &#x017F;ollte: denn insgemein gehet es dort, wie in Le&#x017F;ung der Bu&#x0364;cher;<lb/>
man glaubet zu ver&#x017F;tehen, was man lie&#x017F;t, und man ver&#x017F;tehet es nicht, wenn<lb/>
man es deutlich auslegen &#x017F;oll. Ein anders i&#x017F;t, den Homerus le&#x017F;en, ein<lb/>
anders, ihn im Le&#x017F;en zugleich u&#x0364;ber&#x017F;etzen.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Das</hi> </fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[288/0338] I Theil. Viertes Capitel. Aber ſo wie das Wenige mehr oder weniger den Unterſchied unter Kuͤnſt- lern macht, eben ſo zeigen die vermeynten Kleinigkeiten den aufmerkſamen Beobachter, und das Kleine fuͤhret zum Großen. Mit Betrachtungen uͤber die Kunſt verhaͤlt es ſich auch anders, als mit Unterſuchungen der Ge- lehrſamkeit in den Alterthuͤmern. Hier iſt ſchwer, etwas neues zu entde- cken, und was oͤffentlich ſtehet, iſt in dieſer Abſicht unterſucht; aber dort iſt in dem bekannteſten etwas zu finden: denn Kunſt iſt nicht erſchoͤpft. Aber es iſt das Schoͤne und das Nuͤtzliche nicht mit einem Blicke zu grei- fen, wie ein unweiſer Deutſcher Maler nach ein paar Wochen ſeines Aufenthals in Rom meynete: denn das Wichtige und Schwere gehet tief, und fließet nicht auf der Flaͤche. Der erſte Anblick ſchoͤner Statuen iſt bey dem, welcher Empfindung hat, wie die erſte Ausſicht auf das offene Meer, worinn ſich unſer Blick verlieret, und ſtarr wird, aber in wieder- holter Betrachtung wird der Geiſt ſtiller, und das Auge ruhiger, und gehet vom Ganzen auf das Einzelne. Man erklaͤre ſich ſelbſt die Werke der Kunſt auf eben die Art, wie man andern einen alten Scribenten er- klaͤren ſollte: denn insgemein gehet es dort, wie in Leſung der Buͤcher; man glaubet zu verſtehen, was man lieſt, und man verſtehet es nicht, wenn man es deutlich auslegen ſoll. Ein anders iſt, den Homerus leſen, ein anders, ihn im Leſen zugleich uͤberſetzen. Das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/338
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/338>, abgerufen am 16.07.2024.