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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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des 13. Jahrhunderts auf. Die Dichtungen der Rudolf von pwo_114.002
Ems und Konrad von Würzburg, Meier Helmbrecht von Werner dem pwo_114.003
Gärtner bewahren indes immer noch verhältnismäßig größere Ausdehnung pwo_114.004
als die kleinen Abenteuer, welche die verwandte Produktion pwo_114.005
des Auslands sammelt.

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Denn auch auf diesem Gebiete blieb die deutsche Dichtung nicht pwo_114.007
unbeeinflußt von außen her. Kurze Schwänke aller Art meist aus pwo_114.008
internationalen Stoffquellen gelangen in poetischer Form seit dem pwo_114.009
Mittelalter zur Behandlung und während des 16. Jahrhunderts zu pwo_114.010
einer vollen, anmutenden Blüte. Die beiden vornehmsten modernen pwo_114.011
Arten kurzer Verserzählung verdanken wir auch in der Form ausländischem pwo_114.012
Vorbild. Wiederum bekundet sich der Wetteifer germanischer pwo_114.013
und romanischer Einwirkungen in der Parallelität der Ballade pwo_114.014
und Romanze. Beide, in ihrer Heimat organische Bildungen des pwo_114.015
epischen Geistes, gelangten erst in der klassischen Periode des 18. Jahrhunderts pwo_114.016
bei uns zur Einführung.

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Die Ballade kam uns vom stammverwandten Volk aus England. pwo_114.018
Zwar findet sich die entsprechende Benennung schon in den pwo_114.019
romanischen Litteraturen für Tanzlied (ital. ballata von ballare pwo_114.020
tanzen), in England dehnte sie sich allmählich auf epische Volkslieder pwo_114.021
überhaupt aus, die ganz in dem uns bekannten germanischen Stil des pwo_114.022
epischen Liedes, mit drastischer Knappheit und scenischer Anschaulichkeit, pwo_114.023
nicht nur geschichtliche sondern auch frei erfundene Begebenheiten, pwo_114.024
vorherrschend noch düsterer, tragischer Richtung, besangen. An diesen pwo_114.025
Stil schließt sich vor allem G. A. Bürger mit Meisterschaft an.

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Die uns nicht minder vertraut gewordenen Kennzeichen des romanischen pwo_114.027
Geistes prägt die Romanze aus, die ähnlich in Spanien zunächst pwo_114.028
nichts anderes ist als der allgemeine, nächstliegende Name für pwo_114.029
alle kleineren Verserzählungen in der Volkssprache. Als solche Romanzen pwo_114.030
geben sich auch die historischen Volkslieder, die dort von dem pwo_114.031
Cid und andern Nationalhelden gesungen wurden.

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Rein menschliche Konflikte und schlichte Naturgewalt überkam somit pwo_114.033
unsere Ballade als Wesen, wohingegen die Romanze von Rittertum, pwo_114.034
Glanz und dem ganzen Geist des romanisch-katholischen Mittelalters pwo_114.035
erfüllt ist. Wie Goethe und Schiller beide Gattungen handhaben, pwo_114.036
wurde vollends zum Leitstern für die weitere Entwicklung

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Ems und Konrad von Würzburg, Meier Helmbrecht von Werner dem pwo_114.003
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  Rein menschliche Konflikte und schlichte Naturgewalt überkam somit pwo_114.033
unsere Ballade als Wesen, wohingegen die Romanze von Rittertum, pwo_114.034
Glanz und dem ganzen Geist des romanisch-katholischen Mittelalters pwo_114.035
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/128>, abgerufen am 23.11.2024.