Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_190.001 Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb pwo_190.024 "Find' besseren Rat und ermahne mich so, pwo_190.030 pwo_190.034Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That pwo_190.031 Unerträglich der Rat, der verführen mich soll! pwo_190.032 Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n? pwo_190.033 Nein, dulden mit ihm will ich sein Los." Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die pwo_190.035 pwo_190.001 Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb pwo_190.024 „Find' besseren Rat und ermahne mich so, pwo_190.030 pwo_190.034Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That pwo_190.031 Unerträglich der Rat, der verführen mich soll! pwo_190.032 Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n? pwo_190.033 Nein, dulden mit ihm will ich sein Los.“ Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die pwo_190.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0204" n="190"/><lb n="pwo_190.001"/> Vernichtung der eigenartige Gehalt der Tragödie. Und <lb n="pwo_190.002"/> wer ist der Leidende? Der Dithyrambos beklagt den Gott der Naturkraft, <lb n="pwo_190.003"/> wie er im Winter dahinschwindet. Die aus dem Dithyrambos <lb n="pwo_190.004"/> erwachsende Tragödie verkörpert zunächst diese dem Untergang geweihte <lb n="pwo_190.005"/> Gottheit, mit Aufnahme weiterer Mythen auch Halbgötter und Heroen <lb n="pwo_190.006"/> in ihrem Leiden, schließlich ebenso den heroischen, überragenden Menschen, <lb n="pwo_190.007"/> dessen Weg durch ernste Leiden ging, der von einem furchtbaren <lb n="pwo_190.008"/> Verhängnis bedroht war. Und zwar tritt bezeichnend hervor, <lb n="pwo_190.009"/> daß es <hi rendition="#g">nicht eine unmittelbare Schuld</hi> ist, die durch den <lb n="pwo_190.010"/> drohenden Untergang notwendiger, <hi rendition="#g">gerechter Sühne</hi> entgegengeht. <lb n="pwo_190.011"/> Vielmehr kann in den für das Wesen der Gattung immer besonders <lb n="pwo_190.012"/> bedeutsamen Anfängen, gegenüber den göttlichen Duldern, überhaupt <lb n="pwo_190.013"/> nicht von einer Schuld die Rede sein. Auch wo ein Prometheus die <lb n="pwo_190.014"/> Götter in die Schranken ruft, unterliegt er im Kampfe, nicht in der <lb n="pwo_190.015"/> Sünde: ohnmächtig gegen die Götter, nicht unwürdig. Charakteristisch <lb n="pwo_190.016"/> ist die Wendung, die sich mit Eintritt des Menschen in die tragische <lb n="pwo_190.017"/> Handlung vollzieht: soweit eine Verschuldung überhaupt ersichtlich, <lb n="pwo_190.018"/> sind es auch jetzt nicht sowohl <hi rendition="#g">besondere</hi> todeswürdige Verbrechen, <lb n="pwo_190.019"/> die zu entsprechender Bestrafung kommen, als vielmehr <hi rendition="#g">allgemein <lb n="pwo_190.020"/> menschliche</hi> Leidenschaften, Erbteile und grauenvolle Verhängnisse <lb n="pwo_190.021"/> eines ganzen Geschlechtes, kurzum kaum abwendbare Anlagen, welche <lb n="pwo_190.022"/> den Vernichtungseifer der Götter herausfordern.</p> <lb n="pwo_190.023"/> <p> Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb <lb n="pwo_190.024"/> auch nicht in Genugthuung über den gerechten Weltlauf, umgekehrt <lb n="pwo_190.025"/> in Teilnahme für den Leidenden und in Weh über den unbegreiflichen <lb n="pwo_190.026"/> Weltlauf. Ausdrücklich weist der Chor im „Gefesselten <lb n="pwo_190.027"/> Prometheus“ von Aeschylos mit Entrüstung den Rat des Hermes <lb n="pwo_190.028"/> zurück, den dem Untergang geweihten Helden zu verlassen:</p> <lb n="pwo_190.029"/> <p> <lg> <l>„Find' besseren Rat und ermahne mich so,</l> <lb n="pwo_190.030"/> <l>Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That</l> <lb n="pwo_190.031"/> <l>Unerträglich der Rat, der verführen mich soll!</l> <lb n="pwo_190.032"/> <l>Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n?</l> <lb n="pwo_190.033"/> <l> <hi rendition="#g">Nein, dulden mit ihm will ich sein Los.“</hi> </l> </lg> </p> <lb n="pwo_190.034"/> <p>Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die <lb n="pwo_190.035"/> Wirkung der griechischen Tragödie stehen; wie seine Natur, auch wo <lb n="pwo_190.036"/> sie das Wüten des Schicksals herausfordert, allgemein menschlich oder </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0204]
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Vernichtung der eigenartige Gehalt der Tragödie. Und pwo_190.002
wer ist der Leidende? Der Dithyrambos beklagt den Gott der Naturkraft, pwo_190.003
wie er im Winter dahinschwindet. Die aus dem Dithyrambos pwo_190.004
erwachsende Tragödie verkörpert zunächst diese dem Untergang geweihte pwo_190.005
Gottheit, mit Aufnahme weiterer Mythen auch Halbgötter und Heroen pwo_190.006
in ihrem Leiden, schließlich ebenso den heroischen, überragenden Menschen, pwo_190.007
dessen Weg durch ernste Leiden ging, der von einem furchtbaren pwo_190.008
Verhängnis bedroht war. Und zwar tritt bezeichnend hervor, pwo_190.009
daß es nicht eine unmittelbare Schuld ist, die durch den pwo_190.010
drohenden Untergang notwendiger, gerechter Sühne entgegengeht. pwo_190.011
Vielmehr kann in den für das Wesen der Gattung immer besonders pwo_190.012
bedeutsamen Anfängen, gegenüber den göttlichen Duldern, überhaupt pwo_190.013
nicht von einer Schuld die Rede sein. Auch wo ein Prometheus die pwo_190.014
Götter in die Schranken ruft, unterliegt er im Kampfe, nicht in der pwo_190.015
Sünde: ohnmächtig gegen die Götter, nicht unwürdig. Charakteristisch pwo_190.016
ist die Wendung, die sich mit Eintritt des Menschen in die tragische pwo_190.017
Handlung vollzieht: soweit eine Verschuldung überhaupt ersichtlich, pwo_190.018
sind es auch jetzt nicht sowohl besondere todeswürdige Verbrechen, pwo_190.019
die zu entsprechender Bestrafung kommen, als vielmehr allgemein pwo_190.020
menschliche Leidenschaften, Erbteile und grauenvolle Verhängnisse pwo_190.021
eines ganzen Geschlechtes, kurzum kaum abwendbare Anlagen, welche pwo_190.022
den Vernichtungseifer der Götter herausfordern.
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Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb pwo_190.024
auch nicht in Genugthuung über den gerechten Weltlauf, umgekehrt pwo_190.025
in Teilnahme für den Leidenden und in Weh über den unbegreiflichen pwo_190.026
Weltlauf. Ausdrücklich weist der Chor im „Gefesselten pwo_190.027
Prometheus“ von Aeschylos mit Entrüstung den Rat des Hermes pwo_190.028
zurück, den dem Untergang geweihten Helden zu verlassen:
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„Find' besseren Rat und ermahne mich so, pwo_190.030
Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That pwo_190.031
Unerträglich der Rat, der verführen mich soll! pwo_190.032
Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n? pwo_190.033
Nein, dulden mit ihm will ich sein Los.“
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Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die pwo_190.035
Wirkung der griechischen Tragödie stehen; wie seine Natur, auch wo pwo_190.036
sie das Wüten des Schicksals herausfordert, allgemein menschlich oder
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