Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_194.001 Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten pwo_194.009 Mit der Leidensgeschichte Jesu setzen die geistlichen Spiele pwo_194.016 pwo_194.001 Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten pwo_194.009 Mit der Leidensgeschichte Jesu setzen die geistlichen Spiele pwo_194.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0208" n="194"/><lb n="pwo_194.001"/> der verbindende Text des Evangelisten zwischen den direkten Reden <lb n="pwo_194.002"/> fällt und die eigentliche Darstellung ausschließlich in Dialog vorschreitet, <lb n="pwo_194.003"/> wobei noch immer Zugeständnisse durch Pro- und Epiloge, <lb n="pwo_194.004"/> Ausdeutungen u. dgl. möglich sind. Dies Vorwort des <hi rendition="#aq">Praecursor</hi> <lb n="pwo_194.005"/> bewahrte episches Wesen, schon mit didaktischen Beimengungen; im <lb n="pwo_194.006"/> Nachwort finden sich dieselben beiden Elemente gemischt, nur daß hier <lb n="pwo_194.007"/> der didaktische Zug vorherrscht.</p> <lb n="pwo_194.008"/> <p> Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten <lb n="pwo_194.009"/> jedes Einzelnen, die der epische Bericht als bloßes Nacheinander bot, <lb n="pwo_194.010"/> als einheitliches Jneinander aufgefaßt werden. So gewinnen thatsächlich <lb n="pwo_194.011"/> eine große Reihe von Figuren, indem man sich ein einheitliches <lb n="pwo_194.012"/> Bild von ihnen vorzustellen sucht, allmählich einen festen Charakter, <lb n="pwo_194.013"/> nicht nur die Hauptgestalten, auch einige beliebte weltliche Nebenfiguren, <lb n="pwo_194.014"/> zuerst in der Krämerscene beim Verkauf der Salben.</p> <lb n="pwo_194.015"/> <p> Mit der <hi rendition="#g">Leidensgeschichte</hi> Jesu setzen die geistlichen Spiele <lb n="pwo_194.016"/> ein: wiederum ist, wie im alten Griechenland, das Drama zunächst <lb n="pwo_194.017"/> auf Darstellung von Leiden hingewandt. Daß die Theorie von <lb n="pwo_194.018"/> „poetischer Gerechtigkeit“ ebenso unhistorisch wie unkünstlerisch ist, <lb n="pwo_194.019"/> tritt auch im modernen Drama sofort hervor. Jm Gegenteil: der <lb n="pwo_194.020"/> Reine, Sündenlose, der Gottessohn ist es, der da leidet; – freilich <lb n="pwo_194.021"/> hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen. Auch <lb n="pwo_194.022"/> die Heiligen der Legenden und Mirakel, die Märtyrer büßen und <lb n="pwo_194.023"/> sühnen durch ihren Untergang nicht eine eigene Schuld, sondern gehen <lb n="pwo_194.024"/> freiwillig und freudig in den Tod. Aber auch wo der gewöhnliche <lb n="pwo_194.025"/> Sterbliche leidet und untergeht, sind es nicht Jndividuen, welche handeln <lb n="pwo_194.026"/> und sündigen, sondern Symbole des Menschentums im allgemeinen, <lb n="pwo_194.027"/> Allegorien des Lebens, des Alters und der Jugend u. dgl. <lb n="pwo_194.028"/> Das Gute und das Böse kämpfen um die Menschenseele; der Tod <lb n="pwo_194.029"/> rafft alles dahin ohne Unterschied des Alters oder Standes. Genug, <lb n="pwo_194.030"/> das allgemeine Weltleid klingt dauernd an und reißt zur Teilnahme, <lb n="pwo_194.031"/> zur Mitempfindung fort. Nun wird freilich bisweilen der Antichrist <lb n="pwo_194.032"/> oder sonst ein Vertreter des bösen Prinzips in den Mittelpunkt einer <lb n="pwo_194.033"/> Handlung gerückt: aber höchst charakteristisch gewinnt der Teufel in <lb n="pwo_194.034"/> zunehmendem Maße komische Beleuchtung, er wird der lustige Teufel <lb n="pwo_194.035"/> oder doch der arme Teufel, über den man sich belustigt. Die Grundempfindung, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [194/0208]
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der verbindende Text des Evangelisten zwischen den direkten Reden pwo_194.002
fällt und die eigentliche Darstellung ausschließlich in Dialog vorschreitet, pwo_194.003
wobei noch immer Zugeständnisse durch Pro- und Epiloge, pwo_194.004
Ausdeutungen u. dgl. möglich sind. Dies Vorwort des Praecursor pwo_194.005
bewahrte episches Wesen, schon mit didaktischen Beimengungen; im pwo_194.006
Nachwort finden sich dieselben beiden Elemente gemischt, nur daß hier pwo_194.007
der didaktische Zug vorherrscht.
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Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten pwo_194.009
jedes Einzelnen, die der epische Bericht als bloßes Nacheinander bot, pwo_194.010
als einheitliches Jneinander aufgefaßt werden. So gewinnen thatsächlich pwo_194.011
eine große Reihe von Figuren, indem man sich ein einheitliches pwo_194.012
Bild von ihnen vorzustellen sucht, allmählich einen festen Charakter, pwo_194.013
nicht nur die Hauptgestalten, auch einige beliebte weltliche Nebenfiguren, pwo_194.014
zuerst in der Krämerscene beim Verkauf der Salben.
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Mit der Leidensgeschichte Jesu setzen die geistlichen Spiele pwo_194.016
ein: wiederum ist, wie im alten Griechenland, das Drama zunächst pwo_194.017
auf Darstellung von Leiden hingewandt. Daß die Theorie von pwo_194.018
„poetischer Gerechtigkeit“ ebenso unhistorisch wie unkünstlerisch ist, pwo_194.019
tritt auch im modernen Drama sofort hervor. Jm Gegenteil: der pwo_194.020
Reine, Sündenlose, der Gottessohn ist es, der da leidet; – freilich pwo_194.021
hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen. Auch pwo_194.022
die Heiligen der Legenden und Mirakel, die Märtyrer büßen und pwo_194.023
sühnen durch ihren Untergang nicht eine eigene Schuld, sondern gehen pwo_194.024
freiwillig und freudig in den Tod. Aber auch wo der gewöhnliche pwo_194.025
Sterbliche leidet und untergeht, sind es nicht Jndividuen, welche handeln pwo_194.026
und sündigen, sondern Symbole des Menschentums im allgemeinen, pwo_194.027
Allegorien des Lebens, des Alters und der Jugend u. dgl. pwo_194.028
Das Gute und das Böse kämpfen um die Menschenseele; der Tod pwo_194.029
rafft alles dahin ohne Unterschied des Alters oder Standes. Genug, pwo_194.030
das allgemeine Weltleid klingt dauernd an und reißt zur Teilnahme, pwo_194.031
zur Mitempfindung fort. Nun wird freilich bisweilen der Antichrist pwo_194.032
oder sonst ein Vertreter des bösen Prinzips in den Mittelpunkt einer pwo_194.033
Handlung gerückt: aber höchst charakteristisch gewinnt der Teufel in pwo_194.034
zunehmendem Maße komische Beleuchtung, er wird der lustige Teufel pwo_194.035
oder doch der arme Teufel, über den man sich belustigt. Die Grundempfindung,
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