Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_203.001 Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den pwo_203.014 So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß pwo_203.026 Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, pwo_203.035 pwo_203.001 Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den pwo_203.014 So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß pwo_203.026 Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, pwo_203.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0217" n="203"/><lb n="pwo_203.001"/> für das Zusammentreffen zahreicher weiteren unglücklichen Umstände <lb n="pwo_203.002"/> verantwortlich? Nur die präzise Beantwortung einer solchen <lb n="pwo_203.003"/> Frage führt uns dem eigentlichen Sinn und den notwendigen Schranken <lb n="pwo_203.004"/> des nun anhebenden Jndividualitätslebens nahe. Die Liebenden <lb n="pwo_203.005"/> sind nicht volle Herren ihres Schicksals, aber auch nicht mehr blinde <lb n="pwo_203.006"/> Sklaven desselben: das feurige Blut des Jtalieners pulsiert in ihnen, <lb n="pwo_203.007"/> ganz hingegeben der einen Liebesleidenschaft, sind sie jeder ruhigen <lb n="pwo_203.008"/> Erwägung unfähig, wild stürmen sie in die drohende Gefahr, und so <lb n="pwo_203.009"/> erliegen sie. Mit andern Worten: Shakespeare nimmt den Untergang <lb n="pwo_203.010"/> nicht mehr als unabänderliches Verhängnis; er zeichnet Charaktere, <lb n="pwo_203.011"/> deren individuelle Eigenschaften den tragischen, d. h. zum Untergang <lb n="pwo_203.012"/> führenden Verlauf der Ereignisse besonders begreiflich erscheinen lassen.</p> <lb n="pwo_203.013"/> <p> Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den <lb n="pwo_203.014"/> Untergang verdient, davon kann schon gar keine Rede sein. Hamlets <lb n="pwo_203.015"/> Tod erfolgt nicht als Sühne irgend einer zu ertüftelnden Schuld, <lb n="pwo_203.016"/> erfolgt überhaupt nicht als notwendige Folge einer unglücklichen, verderbenbringenden <lb n="pwo_203.017"/> Charakteranlage. Vielmehr ist sein Untergang durch <lb n="pwo_203.018"/> die Quellen, sowohl die Hamlet-Sage wie die Shakespeare vorliegende <lb n="pwo_203.019"/> ältere dramatische Bearbeitung, gegeben: ob der Dichter seinen Helden <lb n="pwo_203.020"/> untergehen lassen soll, steht danach für ihn bereits außer Frage. <lb n="pwo_203.021"/> Nicht: weshalb läßt er Hamlet untergehen? dürfen danach auch wir <lb n="pwo_203.022"/> fragen; ausschließlich kann der Prüfung unterliegen: hat er Hamlet <lb n="pwo_203.023"/> solche Jndividualität gegeben, daß sein äußerlich überlieferter Untergang <lb n="pwo_203.024"/> nun innerlich verständlich erscheint?</p> <lb n="pwo_203.025"/> <p> So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß <lb n="pwo_203.026"/> auch in der englischen Charaktertragödie noch immer dem Schicksal ein <lb n="pwo_203.027"/> weiter Spielraum gelassen ist, daß der Charakter des Helden an dem <lb n="pwo_203.028"/> Fallen seines Loses wohl mitwirkt, aber auch die Charaktere der <lb n="pwo_203.029"/> Gegenspieler und selbst die Verkettung der Umstände beteiligt sind. <lb n="pwo_203.030"/> Jedenfalls fehlt es Shakespeares Dramen fast nie an diesen epischen <lb n="pwo_203.031"/> Resten, und man gelangt notgedrungen zu schiefen Konstruktionen, <lb n="pwo_203.032"/> wenn man mit Zwang die Katastrophe als allein mögliche und notwendige <lb n="pwo_203.033"/> Folge des Hauptcharakters nachweisen will.</p> <lb n="pwo_203.034"/> <p> Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, <lb n="pwo_203.035"/> wenn gerade der Edle, Sympathische untergeht? Jmmer vernehmlicher, <lb n="pwo_203.036"/> immer präziser klingt es aus der Tragödie: „das Leben ist </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [203/0217]
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für das Zusammentreffen zahreicher weiteren unglücklichen Umstände pwo_203.002
verantwortlich? Nur die präzise Beantwortung einer solchen pwo_203.003
Frage führt uns dem eigentlichen Sinn und den notwendigen Schranken pwo_203.004
des nun anhebenden Jndividualitätslebens nahe. Die Liebenden pwo_203.005
sind nicht volle Herren ihres Schicksals, aber auch nicht mehr blinde pwo_203.006
Sklaven desselben: das feurige Blut des Jtalieners pulsiert in ihnen, pwo_203.007
ganz hingegeben der einen Liebesleidenschaft, sind sie jeder ruhigen pwo_203.008
Erwägung unfähig, wild stürmen sie in die drohende Gefahr, und so pwo_203.009
erliegen sie. Mit andern Worten: Shakespeare nimmt den Untergang pwo_203.010
nicht mehr als unabänderliches Verhängnis; er zeichnet Charaktere, pwo_203.011
deren individuelle Eigenschaften den tragischen, d. h. zum Untergang pwo_203.012
führenden Verlauf der Ereignisse besonders begreiflich erscheinen lassen.
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Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den pwo_203.014
Untergang verdient, davon kann schon gar keine Rede sein. Hamlets pwo_203.015
Tod erfolgt nicht als Sühne irgend einer zu ertüftelnden Schuld, pwo_203.016
erfolgt überhaupt nicht als notwendige Folge einer unglücklichen, verderbenbringenden pwo_203.017
Charakteranlage. Vielmehr ist sein Untergang durch pwo_203.018
die Quellen, sowohl die Hamlet-Sage wie die Shakespeare vorliegende pwo_203.019
ältere dramatische Bearbeitung, gegeben: ob der Dichter seinen Helden pwo_203.020
untergehen lassen soll, steht danach für ihn bereits außer Frage. pwo_203.021
Nicht: weshalb läßt er Hamlet untergehen? dürfen danach auch wir pwo_203.022
fragen; ausschließlich kann der Prüfung unterliegen: hat er Hamlet pwo_203.023
solche Jndividualität gegeben, daß sein äußerlich überlieferter Untergang pwo_203.024
nun innerlich verständlich erscheint?
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So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß pwo_203.026
auch in der englischen Charaktertragödie noch immer dem Schicksal ein pwo_203.027
weiter Spielraum gelassen ist, daß der Charakter des Helden an dem pwo_203.028
Fallen seines Loses wohl mitwirkt, aber auch die Charaktere der pwo_203.029
Gegenspieler und selbst die Verkettung der Umstände beteiligt sind. pwo_203.030
Jedenfalls fehlt es Shakespeares Dramen fast nie an diesen epischen pwo_203.031
Resten, und man gelangt notgedrungen zu schiefen Konstruktionen, pwo_203.032
wenn man mit Zwang die Katastrophe als allein mögliche und notwendige pwo_203.033
Folge des Hauptcharakters nachweisen will.
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Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, pwo_203.035
wenn gerade der Edle, Sympathische untergeht? Jmmer vernehmlicher, pwo_203.036
immer präziser klingt es aus der Tragödie: „das Leben ist
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