Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_229.001
überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf pwo_229.002
geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die pwo_229.003
mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen pwo_229.004
Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken pwo_229.005
ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend pwo_229.006
sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich pwo_229.007
aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über pwo_229.008
glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den pwo_229.009
Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck.

pwo_229.010
§ 88. pwo_229.011
Die Anfänge des modernen Lustspiels.
pwo_229.012

Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt pwo_229.013
sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form pwo_229.014
erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne pwo_229.015
Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück, pwo_229.016
sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf, pwo_229.017
um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer pwo_229.018
Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in pwo_229.019
welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die pwo_229.020
selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform pwo_229.021
in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen pwo_229.022
Spieles immer dramatischer ausgestalteten.

pwo_229.023

Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen pwo_229.024
Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen pwo_229.025
aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden pwo_229.026
Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden pwo_229.027
die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später pwo_229.028
werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von pwo_229.029
Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes pwo_229.030
zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi pwo_229.031
Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die pwo_229.032
Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der pwo_229.033
typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche pwo_229.034
wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme der lustigen Elemente

pwo_229.001
überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf pwo_229.002
geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die pwo_229.003
mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen pwo_229.004
Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken pwo_229.005
ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend pwo_229.006
sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich pwo_229.007
aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über pwo_229.008
glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den pwo_229.009
Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck.

pwo_229.010
§ 88. pwo_229.011
Die Anfänge des modernen Lustspiels.
pwo_229.012

  Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt pwo_229.013
sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form pwo_229.014
erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne pwo_229.015
Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück, pwo_229.016
sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf, pwo_229.017
um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer pwo_229.018
Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in pwo_229.019
welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die pwo_229.020
selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform pwo_229.021
in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen pwo_229.022
Spieles immer dramatischer ausgestalteten.

pwo_229.023

  Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen pwo_229.024
Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen pwo_229.025
aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden pwo_229.026
Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden pwo_229.027
die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später pwo_229.028
werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von pwo_229.029
Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes pwo_229.030
zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi pwo_229.031
Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die pwo_229.032
Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der pwo_229.033
typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche pwo_229.034
wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme der lustigen Elemente

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0243" n="229"/><lb n="pwo_229.001"/>
überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf <lb n="pwo_229.002"/>
geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die <lb n="pwo_229.003"/>
mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen <lb n="pwo_229.004"/>
Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken <lb n="pwo_229.005"/>
ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend <lb n="pwo_229.006"/>
sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich <lb n="pwo_229.007"/>
aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über <lb n="pwo_229.008"/>
glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den <lb n="pwo_229.009"/>
Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck.</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pwo_229.010"/>
              <head> <hi rendition="#c">§ 88. <lb n="pwo_229.011"/>
Die Anfänge des modernen Lustspiels.</hi> </head>
              <lb n="pwo_229.012"/>
              <p>  Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt <lb n="pwo_229.013"/>
sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form <lb n="pwo_229.014"/>
erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne <lb n="pwo_229.015"/>
Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück, <lb n="pwo_229.016"/>
sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf, <lb n="pwo_229.017"/>
um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer <lb n="pwo_229.018"/>
Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in <lb n="pwo_229.019"/>
welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die <lb n="pwo_229.020"/>
selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform <lb n="pwo_229.021"/>
in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen <lb n="pwo_229.022"/>
Spieles immer dramatischer ausgestalteten.</p>
              <lb n="pwo_229.023"/>
              <p>  Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen <lb n="pwo_229.024"/>
Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen <lb n="pwo_229.025"/>
aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden <lb n="pwo_229.026"/>
Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden <lb n="pwo_229.027"/>
die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später <lb n="pwo_229.028"/>
werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von <lb n="pwo_229.029"/>
Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes <lb n="pwo_229.030"/>
zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi <lb n="pwo_229.031"/>
Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die <lb n="pwo_229.032"/>
Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der <lb n="pwo_229.033"/>
typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche <lb n="pwo_229.034"/>
wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme  der lustigen Elemente
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0243] pwo_229.001 überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf pwo_229.002 geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die pwo_229.003 mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen pwo_229.004 Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken pwo_229.005 ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend pwo_229.006 sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich pwo_229.007 aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über pwo_229.008 glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den pwo_229.009 Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck. pwo_229.010 § 88. pwo_229.011 Die Anfänge des modernen Lustspiels. pwo_229.012   Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt pwo_229.013 sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form pwo_229.014 erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne pwo_229.015 Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück, pwo_229.016 sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf, pwo_229.017 um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer pwo_229.018 Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in pwo_229.019 welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die pwo_229.020 selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform pwo_229.021 in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen pwo_229.022 Spieles immer dramatischer ausgestalteten. pwo_229.023   Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen pwo_229.024 Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen pwo_229.025 aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden pwo_229.026 Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden pwo_229.027 die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später pwo_229.028 werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von pwo_229.029 Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes pwo_229.030 zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi pwo_229.031 Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die pwo_229.032 Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der pwo_229.033 typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche pwo_229.034 wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme der lustigen Elemente

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/243
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/243>, abgerufen am 25.11.2024.