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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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§ 101. pwo_252.002
Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes.
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Objektive Zeugnisse über die Beschaffenheit der Dichterseele treten pwo_252.004
schließlich in der spezifisch poetischen Ausdrucksform hervor. Auch pwo_252.005
diese ist von unmittelbarerer Beweiskraft als beliebige Gelegenheitsanmerkungen pwo_252.006
von Dichtern über sich selbst. Als äußere Einführung pwo_252.007
in die Erscheinung, um die es sich hier handelt, sind einzelne solcher pwo_252.008
Geständnisse und Charakterisierungen gewiß von Wert.

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So überliefert Johann Christian Kestner über den jungen Goethe pwo_252.010
von 1772: "Er ... besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, pwo_252.011
daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. pwo_252.012
Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich pwo_252.013
ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er pwo_252.014
aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu pwo_252.015
denken und zu sagen." Es kommt im Grunde auf dasselbe hinaus, pwo_252.016
wenn Heinrich von Kleist mit Bewußtsein sich für das schriftstellerische pwo_252.017
Fach ausbildet, indem er sich ein Magazin von Jdeen und Bildern pwo_252.018
anlegt, auch seiner Braut Anleitung zur Bildersprache giebt: pwo_252.019
"Bei jedem ... interessanten Gedanken müßtest du immer fragen, pwo_252.020
entweder: wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht? pwo_252.021
oder: was hat das für eine Aehnlichkeit, wenn man es mit dem pwo_252.022
Menschen vergleicht?" Ferner: "Sehen und hören &c. können alle pwo_252.023
Menschen, aber wahrnehmen, d. h. mit der Seele den Eindruck pwo_252.024
der Sinne auffassen und denken, das können bei weitem nicht alle." pwo_252.025
Mit ähnlichem Bewußtsein gedenkt Herder seines Jugendlandes, wo er

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"unter dichten Bäumen pwo_252.027
Jn der Muse sel'gem Träumen pwo_252.028
Wahrheit suchte, Bilder fand."
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Weit verbreitet und herrschend ist nun freilich die Auffassung der pwo_252.030
Bilder und sonstigen poetischen Figuren als eines äußeren Schmuckes pwo_252.031
der Rede. Jn unserm Zusammenhang erscheinen sie dagegen von pwo_252.032
vorn herein als natürliche Ausdrucksformen des dichterischen pwo_252.033
Denkens.
Auch der vorgeschrittenste Poetiker, Wilhelm Dilthey, pwo_252.034
erfaßt diese äußern Bilder bereits in ihrem Zusammenhang pwo_252.035
mit den innern Zuständen des Dichtergeistes. Für uns wird es gelten,

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  So überliefert Johann Christian Kestner über den jungen Goethe pwo_252.010
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Mit ähnlichem Bewußtsein gedenkt Herder seines Jugendlandes, wo er

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Wahrheit suchte, Bilder fand.“
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Bilder und sonstigen poetischen Figuren als eines äußeren Schmuckes pwo_252.031
der Rede. Jn unserm Zusammenhang erscheinen sie dagegen von pwo_252.032
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Denkens.
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[252/0266] pwo_252.001 § 101. pwo_252.002 Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes. pwo_252.003   Objektive Zeugnisse über die Beschaffenheit der Dichterseele treten pwo_252.004 schließlich in der spezifisch poetischen Ausdrucksform hervor. Auch pwo_252.005 diese ist von unmittelbarerer Beweiskraft als beliebige Gelegenheitsanmerkungen pwo_252.006 von Dichtern über sich selbst. Als äußere Einführung pwo_252.007 in die Erscheinung, um die es sich hier handelt, sind einzelne solcher pwo_252.008 Geständnisse und Charakterisierungen gewiß von Wert. pwo_252.009   So überliefert Johann Christian Kestner über den jungen Goethe pwo_252.010 von 1772: „Er ... besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, pwo_252.011 daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. pwo_252.012 Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich pwo_252.013 ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er pwo_252.014 aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu pwo_252.015 denken und zu sagen.“ Es kommt im Grunde auf dasselbe hinaus, pwo_252.016 wenn Heinrich von Kleist mit Bewußtsein sich für das schriftstellerische pwo_252.017 Fach ausbildet, indem er sich ein Magazin von Jdeen und Bildern pwo_252.018 anlegt, auch seiner Braut Anleitung zur Bildersprache giebt: pwo_252.019 „Bei jedem ... interessanten Gedanken müßtest du immer fragen, pwo_252.020 entweder: wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht? pwo_252.021 oder: was hat das für eine Aehnlichkeit, wenn man es mit dem pwo_252.022 Menschen vergleicht?“ Ferner: „Sehen und hören &c. können alle pwo_252.023 Menschen, aber wahrnehmen, d. h. mit der Seele den Eindruck pwo_252.024 der Sinne auffassen und denken, das können bei weitem nicht alle.“ pwo_252.025 Mit ähnlichem Bewußtsein gedenkt Herder seines Jugendlandes, wo er pwo_252.026   „unter dichten Bäumen pwo_252.027 Jn der Muse sel'gem Träumen pwo_252.028 Wahrheit suchte, Bilder fand.“ pwo_252.029 Weit verbreitet und herrschend ist nun freilich die Auffassung der pwo_252.030 Bilder und sonstigen poetischen Figuren als eines äußeren Schmuckes pwo_252.031 der Rede. Jn unserm Zusammenhang erscheinen sie dagegen von pwo_252.032 vorn herein als natürliche Ausdrucksformen des dichterischen pwo_252.033 Denkens. Auch der vorgeschrittenste Poetiker, Wilhelm Dilthey, pwo_252.034 erfaßt diese äußern Bilder bereits in ihrem Zusammenhang pwo_252.035 mit den innern Zuständen des Dichtergeistes. Für uns wird es gelten,

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/266>, abgerufen am 24.11.2024.