Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_271.001
Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit pwo_271.002
ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige pwo_271.003
Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses pwo_271.004
Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten pwo_271.005
Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der pwo_271.006
Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch pwo_271.007
einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von pwo_271.008
der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser pwo_271.009
Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich pwo_271.010
zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst einfach - ungegliedert pwo_271.011
- und vereinzelt - spruchartig - auftritt. Das pwo_271.012
Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die pwo_271.013
Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer pwo_271.014
Entwicklung.

pwo_271.015

An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar pwo_271.016
von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine pwo_271.017
Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende pwo_271.018
Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird pwo_271.019
schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime pwo_271.020
verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin pwo_271.021
bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger pwo_271.022
wie bei Dietmar nach.

pwo_271.023

Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen pwo_271.024
lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der pwo_271.025
lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu pwo_271.026
voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren pwo_271.027
Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung pwo_271.028
verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen pwo_271.029
Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen, pwo_271.030
sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach pwo_271.031
diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen pwo_271.032
der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung pwo_271.033
der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen, pwo_271.034
schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind pwo_271.035
die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander pwo_271.036
hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend

pwo_271.001
Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit pwo_271.002
ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige pwo_271.003
Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses pwo_271.004
Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten pwo_271.005
Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der pwo_271.006
Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch pwo_271.007
einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von pwo_271.008
der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser pwo_271.009
Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich pwo_271.010
zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst einfach – ungegliedert pwo_271.011
– und vereinzelt – spruchartig – auftritt. Das pwo_271.012
Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die pwo_271.013
Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer pwo_271.014
Entwicklung.

pwo_271.015

  An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar pwo_271.016
von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine pwo_271.017
Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende pwo_271.018
Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird pwo_271.019
schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime pwo_271.020
verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin pwo_271.021
bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger pwo_271.022
wie bei Dietmar nach.

pwo_271.023

  Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen pwo_271.024
lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der pwo_271.025
lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu pwo_271.026
voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren pwo_271.027
Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung pwo_271.028
verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen pwo_271.029
Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen, pwo_271.030
sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach pwo_271.031
diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen pwo_271.032
der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung pwo_271.033
der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen, pwo_271.034
schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind pwo_271.035
die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander pwo_271.036
hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0285" n="271"/><lb n="pwo_271.001"/>
Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit <lb n="pwo_271.002"/>
ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige <lb n="pwo_271.003"/>
Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses <lb n="pwo_271.004"/>
Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten <lb n="pwo_271.005"/>
Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der <lb n="pwo_271.006"/>
Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch <lb n="pwo_271.007"/>
einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von <lb n="pwo_271.008"/>
der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser <lb n="pwo_271.009"/>
Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich <lb n="pwo_271.010"/>
zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst <hi rendition="#g">einfach</hi> &#x2013; ungegliedert <lb n="pwo_271.011"/>
&#x2013; und <hi rendition="#g">vereinzelt</hi> &#x2013; spruchartig &#x2013; auftritt. Das <lb n="pwo_271.012"/>
Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die <lb n="pwo_271.013"/>
Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer <lb n="pwo_271.014"/>
Entwicklung.</p>
            <lb n="pwo_271.015"/>
            <p>  An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar <lb n="pwo_271.016"/>
von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine <lb n="pwo_271.017"/>
Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende <lb n="pwo_271.018"/>
Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird <lb n="pwo_271.019"/>
schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime <lb n="pwo_271.020"/>
verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin <lb n="pwo_271.021"/>
bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger <lb n="pwo_271.022"/>
wie bei Dietmar nach.</p>
            <lb n="pwo_271.023"/>
            <p>  Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen <lb n="pwo_271.024"/>
lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der <lb n="pwo_271.025"/>
lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu <lb n="pwo_271.026"/>
voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren <lb n="pwo_271.027"/>
Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung <lb n="pwo_271.028"/>
verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen <lb n="pwo_271.029"/>
Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen, <lb n="pwo_271.030"/>
sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach <lb n="pwo_271.031"/>
diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen <lb n="pwo_271.032"/>
der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung <lb n="pwo_271.033"/>
der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen, <lb n="pwo_271.034"/>
schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind <lb n="pwo_271.035"/>
die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander <lb n="pwo_271.036"/>
hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[271/0285] pwo_271.001 Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit pwo_271.002 ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige pwo_271.003 Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses pwo_271.004 Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten pwo_271.005 Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der pwo_271.006 Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch pwo_271.007 einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von pwo_271.008 der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser pwo_271.009 Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich pwo_271.010 zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst einfach – ungegliedert pwo_271.011 – und vereinzelt – spruchartig – auftritt. Das pwo_271.012 Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die pwo_271.013 Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer pwo_271.014 Entwicklung. pwo_271.015   An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar pwo_271.016 von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine pwo_271.017 Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende pwo_271.018 Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird pwo_271.019 schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime pwo_271.020 verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin pwo_271.021 bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger pwo_271.022 wie bei Dietmar nach. pwo_271.023   Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen pwo_271.024 lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der pwo_271.025 lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu pwo_271.026 voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren pwo_271.027 Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung pwo_271.028 verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen pwo_271.029 Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen, pwo_271.030 sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach pwo_271.031 diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen pwo_271.032 der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung pwo_271.033 der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen, pwo_271.034 schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind pwo_271.035 die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander pwo_271.036 hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/285
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/285>, abgerufen am 24.11.2024.