F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.das, jedem Schicksale preisgegeben, durch Sturm und Wetter wer weiß wohin geführt werden wird. -- Sophie, welche einige Jahre älter ist, nahm sich meiner zärtlich und mitleidig an. Meine Jugend, mein natürlich heiterer Sinn waren ihr hülfreich, die arme kleine Blume hob ihr Haupt nach und nach wieder empor im Sonnenschein des Lebens. Im Hause waltete der heiterste Friede, wir lebten im Ganzen einsam, aber angenehm. Nach einiger Zeit erhielten wir einen neuen Hausgenossen an Herrn Sternheim, einem Associe des Hauses Steffano. Er ward auf eine Weise angekündigt, welche mich vermuthen ließ, daß der Wunsch vorhanden sei, ihn noch mit andern Banden daran zu knüpfen. Endlich erschien er. Kaum wüßte ich ihn zu beschreiben: groß und schlank, eine offene Stirn, ein angenehmer Mund und schöne Augen, sobald Gefühl sie belebt; wenn ihn etwas lebhaft ergreift, oder man ihm gefällt, hat sein Ausdruck etwas Einnehmendes. Ich sehe ihn oft an, zu ergründen, was er denkt, denn er spricht außerordentlich wenig, wenngleich sehr gut. Während der ersten Tage sagte er fast nichts, er schien zuvor einen ruhigen, vollständigen Eindruck des Ganzen in sich aufnehmen zu wollen. Herr Steffano behandelte ihn mit väterlicher Güte, Sophie war völlig unbefangen, indessen ich ihn mir sehr aufmerksam betrachtete. Er war der erste mir bekannte Mann, welcher einige Tage mit zwei jungen Mädchen hinbrachte, ohne eine Spur das, jedem Schicksale preisgegeben, durch Sturm und Wetter wer weiß wohin geführt werden wird. — Sophie, welche einige Jahre älter ist, nahm sich meiner zärtlich und mitleidig an. Meine Jugend, mein natürlich heiterer Sinn waren ihr hülfreich, die arme kleine Blume hob ihr Haupt nach und nach wieder empor im Sonnenschein des Lebens. Im Hause waltete der heiterste Friede, wir lebten im Ganzen einsam, aber angenehm. Nach einiger Zeit erhielten wir einen neuen Hausgenossen an Herrn Sternheim, einem Associé des Hauses Steffano. Er ward auf eine Weise angekündigt, welche mich vermuthen ließ, daß der Wunsch vorhanden sei, ihn noch mit andern Banden daran zu knüpfen. Endlich erschien er. Kaum wüßte ich ihn zu beschreiben: groß und schlank, eine offene Stirn, ein angenehmer Mund und schöne Augen, sobald Gefühl sie belebt; wenn ihn etwas lebhaft ergreift, oder man ihm gefällt, hat sein Ausdruck etwas Einnehmendes. Ich sehe ihn oft an, zu ergründen, was er denkt, denn er spricht außerordentlich wenig, wenngleich sehr gut. Während der ersten Tage sagte er fast nichts, er schien zuvor einen ruhigen, vollständigen Eindruck des Ganzen in sich aufnehmen zu wollen. Herr Steffano behandelte ihn mit väterlicher Güte, Sophie war völlig unbefangen, indessen ich ihn mir sehr aufmerksam betrachtete. Er war der erste mir bekannte Mann, welcher einige Tage mit zwei jungen Mädchen hinbrachte, ohne eine Spur <TEI> <text> <body> <div type="letter"> <p><pb facs="#f0038"/> das, jedem Schicksale preisgegeben, durch Sturm und Wetter wer weiß wohin geführt werden wird. — Sophie, welche einige Jahre älter ist, nahm sich meiner zärtlich und mitleidig an. Meine Jugend, mein natürlich heiterer Sinn waren ihr hülfreich, die arme kleine Blume hob ihr Haupt nach und nach wieder empor im Sonnenschein des Lebens. Im Hause waltete der heiterste Friede, wir lebten im Ganzen einsam, aber angenehm.</p><lb/> <p>Nach einiger Zeit erhielten wir einen neuen Hausgenossen an Herrn Sternheim, einem Associé des Hauses Steffano. Er ward auf eine Weise angekündigt, welche mich vermuthen ließ, daß der Wunsch vorhanden sei, ihn noch mit andern Banden daran zu knüpfen. Endlich erschien er. Kaum wüßte ich ihn zu beschreiben: groß und schlank, eine offene Stirn, ein angenehmer Mund und schöne Augen, sobald Gefühl sie belebt; wenn ihn etwas lebhaft ergreift, oder man ihm gefällt, hat sein Ausdruck etwas Einnehmendes. Ich sehe ihn oft an, zu ergründen, was er denkt, denn er spricht außerordentlich wenig, wenngleich sehr gut. Während der ersten Tage sagte er fast nichts, er schien zuvor einen ruhigen, vollständigen Eindruck des Ganzen in sich aufnehmen zu wollen. Herr Steffano behandelte ihn mit väterlicher Güte, Sophie war völlig unbefangen, indessen ich ihn mir sehr aufmerksam betrachtete. Er war der erste mir bekannte Mann, welcher einige Tage mit zwei jungen Mädchen hinbrachte, ohne eine Spur<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0038]
das, jedem Schicksale preisgegeben, durch Sturm und Wetter wer weiß wohin geführt werden wird. — Sophie, welche einige Jahre älter ist, nahm sich meiner zärtlich und mitleidig an. Meine Jugend, mein natürlich heiterer Sinn waren ihr hülfreich, die arme kleine Blume hob ihr Haupt nach und nach wieder empor im Sonnenschein des Lebens. Im Hause waltete der heiterste Friede, wir lebten im Ganzen einsam, aber angenehm.
Nach einiger Zeit erhielten wir einen neuen Hausgenossen an Herrn Sternheim, einem Associé des Hauses Steffano. Er ward auf eine Weise angekündigt, welche mich vermuthen ließ, daß der Wunsch vorhanden sei, ihn noch mit andern Banden daran zu knüpfen. Endlich erschien er. Kaum wüßte ich ihn zu beschreiben: groß und schlank, eine offene Stirn, ein angenehmer Mund und schöne Augen, sobald Gefühl sie belebt; wenn ihn etwas lebhaft ergreift, oder man ihm gefällt, hat sein Ausdruck etwas Einnehmendes. Ich sehe ihn oft an, zu ergründen, was er denkt, denn er spricht außerordentlich wenig, wenngleich sehr gut. Während der ersten Tage sagte er fast nichts, er schien zuvor einen ruhigen, vollständigen Eindruck des Ganzen in sich aufnehmen zu wollen. Herr Steffano behandelte ihn mit väterlicher Güte, Sophie war völlig unbefangen, indessen ich ihn mir sehr aufmerksam betrachtete. Er war der erste mir bekannte Mann, welcher einige Tage mit zwei jungen Mädchen hinbrachte, ohne eine Spur
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