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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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freiwillig, mit Wort und Schwur sich mir geweiht hatte. --

Während ich mich den trübsten und nachdenklichsten Vorstellungen hingab, langte ein Brief R.'s an, jedoch verspätet, denn er meldete darin Herrn von Steinberg's Ankunft, welcher uns bereits seit Wochen verlassen hatte. Um Sophiens Lippen bildete sich ein schmerzliches Lächeln, als sie den Brief gelesen, aber es gelang ihr, mit Heiterkeit gegen mich zu äußern: In R.'s Brief ist eine kleine Lehre für dich enthalten, lies selber und benutze sie, wie du willst. Zum Erstenmal las ich einen seiner Briefe, es war der kälteste Bräutigamsbrief, den man sich denken kann. Gewohnt mein Mentor zu sein, giebt er eine so gütige Fürsorge auch in der Ferne nicht auf und äußert ziemlich rücksichtslos, daß es mir an eigentlicher idealer Bildung fehle. Kaum weiß ich, ob er Recht hat, ich weiß nur, daß ich für das Leben in einem edlen, bürgerlichen Kreise gebildet bin, und darüber hinaus reichen meine Ansprüche nicht. Nach Lesung des Briefes sagte ich gelassen: R. zeigt wie gewöhnlich in Betreff meiner einige Ueberhebung, hätte er indessen gegen dich nur mehr Zärtlichkeit geäußert, so würde jener Umstand sich leichter verwinden lassen. Sie erröthete: Du beurtheilst ihn wie die Menge, süße Emmy, und das eben hätte ich dir nicht zugetraut; er schreibt mir in jeder Stimmung, und so werden mir alle Eindrücke seines augenblicklichen Sinnes. Worin bestände die Bevorzug-

freiwillig, mit Wort und Schwur sich mir geweiht hatte. —

Während ich mich den trübsten und nachdenklichsten Vorstellungen hingab, langte ein Brief R.'s an, jedoch verspätet, denn er meldete darin Herrn von Steinberg's Ankunft, welcher uns bereits seit Wochen verlassen hatte. Um Sophiens Lippen bildete sich ein schmerzliches Lächeln, als sie den Brief gelesen, aber es gelang ihr, mit Heiterkeit gegen mich zu äußern: In R.'s Brief ist eine kleine Lehre für dich enthalten, lies selber und benutze sie, wie du willst. Zum Erstenmal las ich einen seiner Briefe, es war der kälteste Bräutigamsbrief, den man sich denken kann. Gewohnt mein Mentor zu sein, giebt er eine so gütige Fürsorge auch in der Ferne nicht auf und äußert ziemlich rücksichtslos, daß es mir an eigentlicher idealer Bildung fehle. Kaum weiß ich, ob er Recht hat, ich weiß nur, daß ich für das Leben in einem edlen, bürgerlichen Kreise gebildet bin, und darüber hinaus reichen meine Ansprüche nicht. Nach Lesung des Briefes sagte ich gelassen: R. zeigt wie gewöhnlich in Betreff meiner einige Ueberhebung, hätte er indessen gegen dich nur mehr Zärtlichkeit geäußert, so würde jener Umstand sich leichter verwinden lassen. Sie erröthete: Du beurtheilst ihn wie die Menge, süße Emmy, und das eben hätte ich dir nicht zugetraut; er schreibt mir in jeder Stimmung, und so werden mir alle Eindrücke seines augenblicklichen Sinnes. Worin bestände die Bevorzug-

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[0071] freiwillig, mit Wort und Schwur sich mir geweiht hatte. — Während ich mich den trübsten und nachdenklichsten Vorstellungen hingab, langte ein Brief R.'s an, jedoch verspätet, denn er meldete darin Herrn von Steinberg's Ankunft, welcher uns bereits seit Wochen verlassen hatte. Um Sophiens Lippen bildete sich ein schmerzliches Lächeln, als sie den Brief gelesen, aber es gelang ihr, mit Heiterkeit gegen mich zu äußern: In R.'s Brief ist eine kleine Lehre für dich enthalten, lies selber und benutze sie, wie du willst. Zum Erstenmal las ich einen seiner Briefe, es war der kälteste Bräutigamsbrief, den man sich denken kann. Gewohnt mein Mentor zu sein, giebt er eine so gütige Fürsorge auch in der Ferne nicht auf und äußert ziemlich rücksichtslos, daß es mir an eigentlicher idealer Bildung fehle. Kaum weiß ich, ob er Recht hat, ich weiß nur, daß ich für das Leben in einem edlen, bürgerlichen Kreise gebildet bin, und darüber hinaus reichen meine Ansprüche nicht. Nach Lesung des Briefes sagte ich gelassen: R. zeigt wie gewöhnlich in Betreff meiner einige Ueberhebung, hätte er indessen gegen dich nur mehr Zärtlichkeit geäußert, so würde jener Umstand sich leichter verwinden lassen. Sie erröthete: Du beurtheilst ihn wie die Menge, süße Emmy, und das eben hätte ich dir nicht zugetraut; er schreibt mir in jeder Stimmung, und so werden mir alle Eindrücke seines augenblicklichen Sinnes. Worin bestände die Bevorzug-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/71>, abgerufen am 21.11.2024.