Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

von der Prädelineation.
baren Zustande erschaffen wurde, eine Zeitlang
unsichtbar blieb, und alsdann sichtbar wurde.
Sie sehen bald, ein entwickeltes Phänomen ist
ein Wunderwerk, welches von den gemeinen
Wunderwerken nur darin unterschieden ist, daß
es erstlich zur Zeit der Schöpfung schon von Gott
producirt ist, zweytens daß es eine Zeitlang, ehe
es zum Vorschein gekommen, unsichtbar geblie-
ben ist. Alle organische Körper sind also wahre
Arten von Wunderwerken. Allein wie sehr än-
dert sich nicht dadurch der Begriff, den wir von
der gegenwärtigen Natur haben, und wie viel
verliert er nicht von seiner Schönheit! Bishero
war sie eine lebendige Natur, die durch ihre eige-
ne Kräfte unendliche Veränderungen herfürbracht.
Jetzo ist sie ein Werk, welches nur Veränderun-
gen herfür zu bringen scheint, in der That aber
und dem Wesen nach unverändert so liegen bleibt,
wie es gebauet war, außer, daß es allmählig im-
mer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war
sie eine Natur, die sich selbst destruirte, und sich
selbst von neuen wieder schuff, um dadurch unend-
liche Veränderungen herfürzubringen, und sich
immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen.
Jetzo ist sie eine leblose Maße, von der ein Stücke
nach dem andern herunter fällt, so lange bis der
Kram ein Ende hat. Eine solche elende Natur
kann ich nicht ausstehn, und die Saamenthier-
chen, in ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein
Werk des unendlichen Philosophen, sonder sie sind
das Werk eines Leuwenhöcks, eines Glas-
schleifers.

2) Auf-
E 5

von der Praͤdelineation.
baren Zuſtande erſchaffen wurde, eine Zeitlang
unſichtbar blieb, und alsdann ſichtbar wurde.
Sie ſehen bald, ein entwickeltes Phaͤnomen iſt
ein Wunderwerk, welches von den gemeinen
Wunderwerken nur darin unterſchieden iſt, daß
es erſtlich zur Zeit der Schoͤpfung ſchon von Gott
producirt iſt, zweytens daß es eine Zeitlang, ehe
es zum Vorſchein gekommen, unſichtbar geblie-
ben iſt. Alle organiſche Koͤrper ſind alſo wahre
Arten von Wunderwerken. Allein wie ſehr aͤn-
dert ſich nicht dadurch der Begriff, den wir von
der gegenwaͤrtigen Natur haben, und wie viel
verliert er nicht von ſeiner Schoͤnheit! Bishero
war ſie eine lebendige Natur, die durch ihre eige-
ne Kraͤfte unendliche Veraͤnderungen herfuͤrbracht.
Jetzo iſt ſie ein Werk, welches nur Veraͤnderun-
gen herfuͤr zu bringen ſcheint, in der That aber
und dem Weſen nach unveraͤndert ſo liegen bleibt,
wie es gebauet war, außer, daß es allmaͤhlig im-
mer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war
ſie eine Natur, die ſich ſelbſt deſtruirte, und ſich
ſelbſt von neuen wieder ſchuff, um dadurch unend-
liche Veraͤnderungen herfuͤrzubringen, und ſich
immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen.
Jetzo iſt ſie eine lebloſe Maße, von der ein Stuͤcke
nach dem andern herunter faͤllt, ſo lange bis der
Kram ein Ende hat. Eine ſolche elende Natur
kann ich nicht ausſtehn, und die Saamenthier-
chen, in ihrer Hypotheſe betrachtet, ſind nicht ein
Werk des unendlichen Philoſophen, ſonder ſie ſind
das Werk eines Leuwenhoͤcks, eines Glas-
ſchleifers.

2) Auf-
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0095" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">von der Pra&#x0364;delineation.</hi></fw><lb/>
baren Zu&#x017F;tande er&#x017F;chaffen wurde, eine Zeitlang<lb/>
un&#x017F;ichtbar blieb, und alsdann &#x017F;ichtbar wurde.<lb/>
Sie &#x017F;ehen bald, ein entwickeltes Pha&#x0364;nomen i&#x017F;t<lb/>
ein Wunderwerk, welches von den gemeinen<lb/>
Wunderwerken nur darin unter&#x017F;chieden i&#x017F;t, daß<lb/>
es er&#x017F;tlich zur Zeit der Scho&#x0364;pfung &#x017F;chon von Gott<lb/>
producirt i&#x017F;t, zweytens daß es eine Zeitlang, ehe<lb/>
es zum Vor&#x017F;chein gekommen, un&#x017F;ichtbar geblie-<lb/>
ben i&#x017F;t. Alle organi&#x017F;che Ko&#x0364;rper &#x017F;ind al&#x017F;o wahre<lb/>
Arten von Wunderwerken. Allein wie &#x017F;ehr a&#x0364;n-<lb/>
dert &#x017F;ich nicht dadurch der Begriff, den wir von<lb/>
der gegenwa&#x0364;rtigen Natur haben, und wie viel<lb/>
verliert er nicht von &#x017F;einer Scho&#x0364;nheit! Bishero<lb/>
war &#x017F;ie eine lebendige Natur, die durch ihre eige-<lb/>
ne Kra&#x0364;fte unendliche Vera&#x0364;nderungen herfu&#x0364;rbracht.<lb/>
Jetzo i&#x017F;t &#x017F;ie ein Werk, welches nur Vera&#x0364;nderun-<lb/>
gen herfu&#x0364;r zu bringen &#x017F;cheint, in der That aber<lb/>
und dem We&#x017F;en nach unvera&#x0364;ndert &#x017F;o liegen bleibt,<lb/>
wie es gebauet war, außer, daß es allma&#x0364;hlig im-<lb/>
mer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war<lb/>
&#x017F;ie eine Natur, die &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t de&#x017F;truirte, und &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t von neuen wieder &#x017F;chuff, um dadurch unend-<lb/>
liche Vera&#x0364;nderungen herfu&#x0364;rzubringen, und &#x017F;ich<lb/>
immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen.<lb/>
Jetzo i&#x017F;t &#x017F;ie eine leblo&#x017F;e Maße, von der ein Stu&#x0364;cke<lb/>
nach dem andern herunter fa&#x0364;llt, &#x017F;o lange bis der<lb/>
Kram ein Ende hat. Eine &#x017F;olche elende Natur<lb/>
kann ich nicht aus&#x017F;tehn, und die Saamenthier-<lb/>
chen, in ihrer Hypothe&#x017F;e betrachtet, &#x017F;ind nicht ein<lb/>
Werk des unendlichen Philo&#x017F;ophen, &#x017F;onder &#x017F;ie &#x017F;ind<lb/>
das Werk eines <hi rendition="#fr">Leuwenho&#x0364;cks,</hi> eines Glas-<lb/>
&#x017F;chleifers.</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">E 5</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">2) Auf-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0095] von der Praͤdelineation. baren Zuſtande erſchaffen wurde, eine Zeitlang unſichtbar blieb, und alsdann ſichtbar wurde. Sie ſehen bald, ein entwickeltes Phaͤnomen iſt ein Wunderwerk, welches von den gemeinen Wunderwerken nur darin unterſchieden iſt, daß es erſtlich zur Zeit der Schoͤpfung ſchon von Gott producirt iſt, zweytens daß es eine Zeitlang, ehe es zum Vorſchein gekommen, unſichtbar geblie- ben iſt. Alle organiſche Koͤrper ſind alſo wahre Arten von Wunderwerken. Allein wie ſehr aͤn- dert ſich nicht dadurch der Begriff, den wir von der gegenwaͤrtigen Natur haben, und wie viel verliert er nicht von ſeiner Schoͤnheit! Bishero war ſie eine lebendige Natur, die durch ihre eige- ne Kraͤfte unendliche Veraͤnderungen herfuͤrbracht. Jetzo iſt ſie ein Werk, welches nur Veraͤnderun- gen herfuͤr zu bringen ſcheint, in der That aber und dem Weſen nach unveraͤndert ſo liegen bleibt, wie es gebauet war, außer, daß es allmaͤhlig im- mer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war ſie eine Natur, die ſich ſelbſt deſtruirte, und ſich ſelbſt von neuen wieder ſchuff, um dadurch unend- liche Veraͤnderungen herfuͤrzubringen, und ſich immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen. Jetzo iſt ſie eine lebloſe Maße, von der ein Stuͤcke nach dem andern herunter faͤllt, ſo lange bis der Kram ein Ende hat. Eine ſolche elende Natur kann ich nicht ausſtehn, und die Saamenthier- chen, in ihrer Hypotheſe betrachtet, ſind nicht ein Werk des unendlichen Philoſophen, ſonder ſie ſind das Werk eines Leuwenhoͤcks, eines Glas- ſchleifers. 2) Auf- E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/95
Zitationshilfe: Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/95>, abgerufen am 23.11.2024.