Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.II. Die psychischen Gebilde. die des Tastsinns als ursprüngliche, an und für sich schonmit der Einwirkung der Lichteindrücke in ihrer räumlichen Ordnung gegebene angesehen werden können, sondern dass sich diese Ordnung erst auf Grund der Verbindung ge- wisser Empfindungscomponenten entwickelt, denen einzeln genommen noch nicht die räumliche Eigenschaft zukommt. Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, dass sich die Empfindungscomponenten hier analog zu einander verhalten wie beim Tastsinn, und dass insbesondere die Raumentwick- lung des Sehenden vollständig in Parallele gebracht werden muss zu der Raumentwicklung des Blindgeborenen, bei dem allein der Tastsinn eine ähnliche Selbständigkeit erreicht. Den Tasteindrücken entsprechen die Netzhauteindrücke, den Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tast- eindrücke eine locale Bedeutung erst durch die mit ihnen verbundenen localen Färbungen der Empfindung, die Local- zeichen, gewinnen können, so wird nothwendig das ähn- liche bei den Netzhauteindrücken vorauszusetzen sein. 22a. Allerdings lässt sich eine qualitative Abstufung der II. Die psychischen Gebilde. die des Tastsinns als ursprüngliche, an und für sich schonmit der Einwirkung der Lichteindrücke in ihrer räumlichen Ordnung gegebene angesehen werden können, sondern dass sich diese Ordnung erst auf Grund der Verbindung ge- wisser Empfindungscomponenten entwickelt, denen einzeln genommen noch nicht die räumliche Eigenschaft zukommt. Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, dass sich die Empfindungscomponenten hier analog zu einander verhalten wie beim Tastsinn, und dass insbesondere die Raumentwick- lung des Sehenden vollständig in Parallele gebracht werden muss zu der Raumentwicklung des Blindgeborenen, bei dem allein der Tastsinn eine ähnliche Selbständigkeit erreicht. Den Tasteindrücken entsprechen die Netzhauteindrücke, den Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tast- eindrücke eine locale Bedeutung erst durch die mit ihnen verbundenen localen Färbungen der Empfindung, die Local- zeichen, gewinnen können, so wird nothwendig das ähn- liche bei den Netzhauteindrücken vorauszusetzen sein. 22a. Allerdings lässt sich eine qualitative Abstufung der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0166" n="150"/><fw place="top" type="header">II. Die psychischen Gebilde.</fw><lb/> die des Tastsinns als ursprüngliche, an und für sich schon<lb/> mit der Einwirkung der Lichteindrücke in ihrer räumlichen<lb/> Ordnung gegebene angesehen werden können, sondern dass<lb/> sich diese Ordnung erst auf Grund der Verbindung ge-<lb/> wisser Empfindungscomponenten entwickelt, denen einzeln<lb/> genommen noch nicht die räumliche Eigenschaft zukommt.<lb/> Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, dass sich die<lb/> Empfindungscomponenten hier analog zu einander verhalten<lb/> wie beim Tastsinn, und dass insbesondere die Raumentwick-<lb/> lung des Sehenden vollständig in Parallele gebracht werden<lb/> muss zu der Raumentwicklung des Blindgeborenen, bei dem<lb/> allein der Tastsinn eine ähnliche Selbständigkeit erreicht.<lb/> Den Tasteindrücken entsprechen die Netzhauteindrücke, den<lb/> Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tast-<lb/> eindrücke eine locale Bedeutung erst durch die mit ihnen<lb/> verbundenen localen Färbungen der Empfindung, die Local-<lb/> zeichen, gewinnen können, so wird nothwendig das ähn-<lb/> liche bei den Netzhauteindrücken vorauszusetzen sein.</p><lb/> <p>22a. Allerdings lässt sich eine qualitative Abstufung der<lb/> Localzeichen auf der Netzhaut nicht mit gleicher Deutlichkeit<lb/> wie auf der äußeren Haut nachweisen. Doch kann man bei<lb/> farbigen Eindrücken im allgemeinen feststellen, dass sich in<lb/> größeren Abständen vom Netzhautcentrum allmählich die Qualität<lb/> der Empfindung ändert, indem theils die Farben im indirecten<lb/> Sehen ungesättigter, theils aber auch in einem qualitativ andern<lb/> Farbenton, z. B. gelb wie orange, empfunden werden. Nun liegt<lb/> allerdings in diesen Eigenthümlichkeiten kein strenger Beweis<lb/> für die Existenz rein localer Unterschiede der Empfindung, vol-<lb/> lends von so feiner Abstufung, wie sie z. B. in der Netzhautmitte<lb/> vorauszusetzen ist. Immerhin wird dadurch bestätigt, dass locale<lb/> Unterschiede der Empfindungsqualität überhaupt existiren, und dies<lb/> lässt die Annahme solcher noch jenseits der Grenzen, in der sie<lb/> nachweisbar sind, um so gerechtfertigter erscheinen, als jene<lb/> unmittelbare Umdeutung der Empfindungsunterschiede in locale<lb/> Unterschiede, die schon beim Tastorgan zu bemerken ist, hier,<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0166]
II. Die psychischen Gebilde.
die des Tastsinns als ursprüngliche, an und für sich schon
mit der Einwirkung der Lichteindrücke in ihrer räumlichen
Ordnung gegebene angesehen werden können, sondern dass
sich diese Ordnung erst auf Grund der Verbindung ge-
wisser Empfindungscomponenten entwickelt, denen einzeln
genommen noch nicht die räumliche Eigenschaft zukommt.
Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, dass sich die
Empfindungscomponenten hier analog zu einander verhalten
wie beim Tastsinn, und dass insbesondere die Raumentwick-
lung des Sehenden vollständig in Parallele gebracht werden
muss zu der Raumentwicklung des Blindgeborenen, bei dem
allein der Tastsinn eine ähnliche Selbständigkeit erreicht.
Den Tasteindrücken entsprechen die Netzhauteindrücke, den
Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tast-
eindrücke eine locale Bedeutung erst durch die mit ihnen
verbundenen localen Färbungen der Empfindung, die Local-
zeichen, gewinnen können, so wird nothwendig das ähn-
liche bei den Netzhauteindrücken vorauszusetzen sein.
22a. Allerdings lässt sich eine qualitative Abstufung der
Localzeichen auf der Netzhaut nicht mit gleicher Deutlichkeit
wie auf der äußeren Haut nachweisen. Doch kann man bei
farbigen Eindrücken im allgemeinen feststellen, dass sich in
größeren Abständen vom Netzhautcentrum allmählich die Qualität
der Empfindung ändert, indem theils die Farben im indirecten
Sehen ungesättigter, theils aber auch in einem qualitativ andern
Farbenton, z. B. gelb wie orange, empfunden werden. Nun liegt
allerdings in diesen Eigenthümlichkeiten kein strenger Beweis
für die Existenz rein localer Unterschiede der Empfindung, vol-
lends von so feiner Abstufung, wie sie z. B. in der Netzhautmitte
vorauszusetzen ist. Immerhin wird dadurch bestätigt, dass locale
Unterschiede der Empfindungsqualität überhaupt existiren, und dies
lässt die Annahme solcher noch jenseits der Grenzen, in der sie
nachweisbar sind, um so gerechtfertigter erscheinen, als jene
unmittelbare Umdeutung der Empfindungsunterschiede in locale
Unterschiede, die schon beim Tastorgan zu bemerken ist, hier,
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