Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Die psychischen Entwicklungen.
directen Einflüsse der Naturzüchtung. Hierfür spricht überdies
die Beobachtung, dass sich namentlich beim Menschen gewisse
eigenthümliche Ausdrucksbewegungen oder technische Fertigkeiten
in Familien vererben (S. 334). Dies schließt selbstverständlich
die Mitwirkung der äußern Natureinflüsse in keinem Falle aus,
sondern es wird nur im Einklang mit den Thatsachen der Be-
obachtung eine doppelte Wirkungsweise dieser Einflüsse gefordert:
erstens eine directe, bei welcher der Organismus selbst nur passiv
durch die Wirkungen der Naturzüchtung verändert wird, und
zweitens eine indirecte, bei der die äußeren Einflüsse zunächst
psychophysische Reactionen auslösen, die dann die nächsten Ur-
sachen der entstehenden Veränderungen sind. Schließt man die
letztere Wirkungsweise aus, so verschließt man sich damit nicht
bloß eine der wichtigsten Quellen für die Erkenntniss der emi-
nenten Zweckmäßigkeit gerade der thierischen Organismen, son-
dern es wird dadurch insbesondere auch das psychologische Ver-
ständniss der allmählichen Entwicklung der Willenshandlungen
und ihrer Rückverwandlung in zweckmäßige Reflexe, wie eine
solche bei einer Menge angeborener Ausdrucksbewegungen uns
entgegentritt, unmöglich gemacht (§ 20, 1).

§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.

1. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwick-
lung des Menschen gegenüber derjenigen der meisten Thiere
gibt sich an der sehr allmählichen Ausbildung der Sinnes-
functionen
zu erkennen. Das Kind reagirt zwar sofort
nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten
auf Tast- und Geschmackseindrücke, am unsichersten auf
Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, dass hierbei die
besonderen Formen der Reactionsbewegung auf vererbten
Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch
von den Schreibewegungen bei Kälte- und andern Tast-
einwirkungen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu
beobachtenden mimischen Reflexen auf süße, saure und
bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrschein-

IV. Die psychischen Entwicklungen.
directen Einflüsse der Naturzüchtung. Hierfür spricht überdies
die Beobachtung, dass sich namentlich beim Menschen gewisse
eigenthümliche Ausdrucksbewegungen oder technische Fertigkeiten
in Familien vererben (S. 334). Dies schließt selbstverständlich
die Mitwirkung der äußern Natureinflüsse in keinem Falle aus,
sondern es wird nur im Einklang mit den Thatsachen der Be-
obachtung eine doppelte Wirkungsweise dieser Einflüsse gefordert:
erstens eine directe, bei welcher der Organismus selbst nur passiv
durch die Wirkungen der Naturzüchtung verändert wird, und
zweitens eine indirecte, bei der die äußeren Einflüsse zunächst
psychophysische Reactionen auslösen, die dann die nächsten Ur-
sachen der entstehenden Veränderungen sind. Schließt man die
letztere Wirkungsweise aus, so verschließt man sich damit nicht
bloß eine der wichtigsten Quellen für die Erkenntniss der emi-
nenten Zweckmäßigkeit gerade der thierischen Organismen, son-
dern es wird dadurch insbesondere auch das psychologische Ver-
ständniss der allmählichen Entwicklung der Willenshandlungen
und ihrer Rückverwandlung in zweckmäßige Reflexe, wie eine
solche bei einer Menge angeborener Ausdrucksbewegungen uns
entgegentritt, unmöglich gemacht (§ 20, 1).

§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.

1. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwick-
lung des Menschen gegenüber derjenigen der meisten Thiere
gibt sich an der sehr allmählichen Ausbildung der Sinnes-
functionen
zu erkennen. Das Kind reagirt zwar sofort
nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten
auf Tast- und Geschmackseindrücke, am unsichersten auf
Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, dass hierbei die
besonderen Formen der Reactionsbewegung auf vererbten
Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch
von den Schreibewegungen bei Kälte- und andern Tast-
einwirkungen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu
beobachtenden mimischen Reflexen auf süße, saure und
bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrschein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0348" n="332"/><fw place="top" type="header">IV. Die psychischen Entwicklungen.</fw><lb/>
directen Einflüsse der Naturzüchtung. Hierfür spricht überdies<lb/>
die Beobachtung, dass sich namentlich beim Menschen gewisse<lb/>
eigenthümliche Ausdrucksbewegungen oder technische Fertigkeiten<lb/>
in Familien vererben (S. 334). Dies schließt selbstverständlich<lb/>
die Mitwirkung der äußern Natureinflüsse in keinem Falle aus,<lb/>
sondern es wird nur im Einklang mit den Thatsachen der Be-<lb/>
obachtung eine doppelte Wirkungsweise dieser Einflüsse gefordert:<lb/>
erstens eine directe, bei welcher der Organismus selbst nur passiv<lb/>
durch die Wirkungen der Naturzüchtung verändert wird, und<lb/>
zweitens eine indirecte, bei der die äußeren Einflüsse zunächst<lb/>
psychophysische Reactionen auslösen, die dann die nächsten Ur-<lb/>
sachen der entstehenden Veränderungen sind. Schließt man die<lb/>
letztere Wirkungsweise aus, so verschließt man sich damit nicht<lb/>
bloß eine der wichtigsten Quellen für die Erkenntniss der emi-<lb/>
nenten Zweckmäßigkeit gerade der thierischen Organismen, son-<lb/>
dern es wird dadurch insbesondere auch das psychologische Ver-<lb/>
ständniss der allmählichen Entwicklung der Willenshandlungen<lb/>
und ihrer Rückverwandlung in zweckmäßige Reflexe, wie eine<lb/>
solche bei einer Menge angeborener Ausdrucksbewegungen uns<lb/>
entgegentritt, unmöglich gemacht (§ 20, 1).</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.</hi> </head><lb/>
          <p>1. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwick-<lb/>
lung des Menschen gegenüber derjenigen der meisten Thiere<lb/>
gibt sich an der sehr allmählichen Ausbildung der <hi rendition="#g">Sinnes-<lb/>
functionen</hi> zu erkennen. Das Kind reagirt zwar sofort<lb/>
nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten<lb/>
auf Tast- und Geschmackseindrücke, am unsichersten auf<lb/>
Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, dass hierbei die<lb/>
besonderen Formen der Reactionsbewegung auf vererbten<lb/>
Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch<lb/>
von den Schreibewegungen bei Kälte- und andern Tast-<lb/>
einwirkungen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu<lb/>
beobachtenden mimischen Reflexen auf süße, saure und<lb/>
bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrschein-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0348] IV. Die psychischen Entwicklungen. directen Einflüsse der Naturzüchtung. Hierfür spricht überdies die Beobachtung, dass sich namentlich beim Menschen gewisse eigenthümliche Ausdrucksbewegungen oder technische Fertigkeiten in Familien vererben (S. 334). Dies schließt selbstverständlich die Mitwirkung der äußern Natureinflüsse in keinem Falle aus, sondern es wird nur im Einklang mit den Thatsachen der Be- obachtung eine doppelte Wirkungsweise dieser Einflüsse gefordert: erstens eine directe, bei welcher der Organismus selbst nur passiv durch die Wirkungen der Naturzüchtung verändert wird, und zweitens eine indirecte, bei der die äußeren Einflüsse zunächst psychophysische Reactionen auslösen, die dann die nächsten Ur- sachen der entstehenden Veränderungen sind. Schließt man die letztere Wirkungsweise aus, so verschließt man sich damit nicht bloß eine der wichtigsten Quellen für die Erkenntniss der emi- nenten Zweckmäßigkeit gerade der thierischen Organismen, son- dern es wird dadurch insbesondere auch das psychologische Ver- ständniss der allmählichen Entwicklung der Willenshandlungen und ihrer Rückverwandlung in zweckmäßige Reflexe, wie eine solche bei einer Menge angeborener Ausdrucksbewegungen uns entgegentritt, unmöglich gemacht (§ 20, 1). § 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 1. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwick- lung des Menschen gegenüber derjenigen der meisten Thiere gibt sich an der sehr allmählichen Ausbildung der Sinnes- functionen zu erkennen. Das Kind reagirt zwar sofort nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten auf Tast- und Geschmackseindrücke, am unsichersten auf Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, dass hierbei die besonderen Formen der Reactionsbewegung auf vererbten Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch von den Schreibewegungen bei Kälte- und andern Tast- einwirkungen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu beobachtenden mimischen Reflexen auf süße, saure und bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrschein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/348
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/348>, abgerufen am 24.11.2024.