1. Jede Erfahrungswissenschaft hat zu ihrem nächsten und eigentlichsten Inhalte bestimmte Thatsachen der Erfah- rung, deren Beschaffenheit und wechselseitige Beziehungen sie zu erforschen sucht. Bei der Lösung dieser Aufgabe erweisen sich aber allgemeine Hülfsbegriffe, die selbst nicht unmittelbar in der Erfahrung enthalten sind, sondern erst auf Grund einer logischen Bearbeitung derselben ge- wonnen werden, als unerlässlich, falls man nicht auf die Zusammenfassung der Thatsachen unter leitende Gesichts- punkte gänzlich verzichten will. Der allgemeinste Hülfs- begriff dieser Art, der in allen Erfahrungswissenschaften seine Rechte geltend macht, ist der Begriff der Causalität. Er entstammt dem Bedürfniss unseres Denkens, alle uns gegebenen Erfahrungen nach Gründen und Folgen zu ord- nen und überall, wo sich der Herstellung eines auf diesem Wege erstrebten widerspruchslosen Zusammenhangs Wider- stände entgegensetzen, dieselben durch secundäre Hülfs- begriffe, eventuell von hypothetischer Art, zu beseitigen. In diesem Sinne lassen sich alle für die Interpretation eines Erfahrungsgebietes überhaupt in Frage kommenden Hülfs- begriffe als Anwendungen des allgemeinen Causalprincips betrachten: sie sind gerechtfertigt, insoweit sie durch dieses Princip gefordert oder mindestens als wahrscheinlich nahe gelegt sind; sie sind nicht gerechtfertigt, sobald sie sich
V. Die psychische Causalität und ihre Gesetze.
§ 22. Der Begriff der Seele.
1. Jede Erfahrungswissenschaft hat zu ihrem nächsten und eigentlichsten Inhalte bestimmte Thatsachen der Erfah- rung, deren Beschaffenheit und wechselseitige Beziehungen sie zu erforschen sucht. Bei der Lösung dieser Aufgabe erweisen sich aber allgemeine Hülfsbegriffe, die selbst nicht unmittelbar in der Erfahrung enthalten sind, sondern erst auf Grund einer logischen Bearbeitung derselben ge- wonnen werden, als unerlässlich, falls man nicht auf die Zusammenfassung der Thatsachen unter leitende Gesichts- punkte gänzlich verzichten will. Der allgemeinste Hülfs- begriff dieser Art, der in allen Erfahrungswissenschaften seine Rechte geltend macht, ist der Begriff der Causalität. Er entstammt dem Bedürfniss unseres Denkens, alle uns gegebenen Erfahrungen nach Gründen und Folgen zu ord- nen und überall, wo sich der Herstellung eines auf diesem Wege erstrebten widerspruchslosen Zusammenhangs Wider- stände entgegensetzen, dieselben durch secundäre Hülfs- begriffe, eventuell von hypothetischer Art, zu beseitigen. In diesem Sinne lassen sich alle für die Interpretation eines Erfahrungsgebietes überhaupt in Frage kommenden Hülfs- begriffe als Anwendungen des allgemeinen Causalprincips betrachten: sie sind gerechtfertigt, insoweit sie durch dieses Princip gefordert oder mindestens als wahrscheinlich nahe gelegt sind; sie sind nicht gerechtfertigt, sobald sie sich
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[[363]/0379]
V. Die psychische Causalität und ihre Gesetze.
§ 22. Der Begriff der Seele.
1. Jede Erfahrungswissenschaft hat zu ihrem nächsten
und eigentlichsten Inhalte bestimmte Thatsachen der Erfah-
rung, deren Beschaffenheit und wechselseitige Beziehungen
sie zu erforschen sucht. Bei der Lösung dieser Aufgabe
erweisen sich aber allgemeine Hülfsbegriffe, die selbst
nicht unmittelbar in der Erfahrung enthalten sind, sondern
erst auf Grund einer logischen Bearbeitung derselben ge-
wonnen werden, als unerlässlich, falls man nicht auf die
Zusammenfassung der Thatsachen unter leitende Gesichts-
punkte gänzlich verzichten will. Der allgemeinste Hülfs-
begriff dieser Art, der in allen Erfahrungswissenschaften
seine Rechte geltend macht, ist der Begriff der Causalität.
Er entstammt dem Bedürfniss unseres Denkens, alle uns
gegebenen Erfahrungen nach Gründen und Folgen zu ord-
nen und überall, wo sich der Herstellung eines auf diesem
Wege erstrebten widerspruchslosen Zusammenhangs Wider-
stände entgegensetzen, dieselben durch secundäre Hülfs-
begriffe, eventuell von hypothetischer Art, zu beseitigen.
In diesem Sinne lassen sich alle für die Interpretation eines
Erfahrungsgebietes überhaupt in Frage kommenden Hülfs-
begriffe als Anwendungen des allgemeinen Causalprincips
betrachten: sie sind gerechtfertigt, insoweit sie durch dieses
Princip gefordert oder mindestens als wahrscheinlich nahe
gelegt sind; sie sind nicht gerechtfertigt, sobald sie sich
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. [363]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/379>, abgerufen am 24.11.2024.
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