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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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V. Die psychische Causalität und ihre Gesetze.
dem Bedürfniss nach einem allgemeinen, die Natur und das
individuelle Dasein gleichmäßig umfassenden Weltbilde so
viel als möglich entgegenzukommen.

4. In diesem mythologisch-metaphysischen Bedürfnisse
wurzelt der substantielle Seelenbegriff in seinen
verschiedenen Gestaltungen. Hat es auch in der Entwick-
lung desselben keineswegs an Bestrebungen gefehlt, auf dem
durch ihn geschaffenen Boden den Forderungen psycholo-
gischer Causalerklärung einigermaßen gerecht zu werden, so
sind doch solche Bestrebungen überall erst nachträglich ent-
standen; und unverkennbar würde nicht bloß die psycho-
logische Erfahrung unabhängig von jenen ihr fremden
metaphysischen Motiven niemals zu einem substantiellen
Seelenbegriff geführt haben, sondern es hat auch dieser
zweifellos schädigend auf die Auffassung der Erfahrung
zurückgewirkt. Die Ansicht z. B., dass alle psychischen
Inhalte ihrem Wesen nach Vorstellungen, dass die Vorstel-
lungen mehr oder minder unvergängliche Objecte seien u. s. w.,
würde ohne solche Voraussetzungen kaum verständlich sein.
Ueberdies spricht hierfür der enge Zusammenhang, in
welchem der substantielle Seelenbegriff mit dem Begriff der
materiellen Substanz steht. Entweder wird er nämlich als
identisch mit diesem, oder er wird zwar als eigenartiger
Begriff betrachtet, bei dem aber gleichwohl die allgemeinsten
formalen Merkmale auf eine bestimmte Form des Begriffs
der Materie, nämlich auf das Atom, zurückführen.

5. Hiernach lassen sich zwei Gestaltungen des sub-
stantiellen Seelenbegriffs unterscheiden, entsprechend den
in § 2 (S. 7) unterschiedenen beiden Richtungen der meta-
physischen Psychologie: die materialistische, welche die
psychischen Vorgänge als Wirkungen der Materie oder ge-
wisser materieller Complexe, wie der Gehirnbestandtheile,
betrachtet, und die spiritualistische, welche dieselben

V. Die psychische Causalität und ihre Gesetze.
dem Bedürfniss nach einem allgemeinen, die Natur und das
individuelle Dasein gleichmäßig umfassenden Weltbilde so
viel als möglich entgegenzukommen.

4. In diesem mythologisch-metaphysischen Bedürfnisse
wurzelt der substantielle Seelenbegriff in seinen
verschiedenen Gestaltungen. Hat es auch in der Entwick-
lung desselben keineswegs an Bestrebungen gefehlt, auf dem
durch ihn geschaffenen Boden den Forderungen psycholo-
gischer Causalerklärung einigermaßen gerecht zu werden, so
sind doch solche Bestrebungen überall erst nachträglich ent-
standen; und unverkennbar würde nicht bloß die psycho-
logische Erfahrung unabhängig von jenen ihr fremden
metaphysischen Motiven niemals zu einem substantiellen
Seelenbegriff geführt haben, sondern es hat auch dieser
zweifellos schädigend auf die Auffassung der Erfahrung
zurückgewirkt. Die Ansicht z. B., dass alle psychischen
Inhalte ihrem Wesen nach Vorstellungen, dass die Vorstel-
lungen mehr oder minder unvergängliche Objecte seien u. s. w.,
würde ohne solche Voraussetzungen kaum verständlich sein.
Ueberdies spricht hierfür der enge Zusammenhang, in
welchem der substantielle Seelenbegriff mit dem Begriff der
materiellen Substanz steht. Entweder wird er nämlich als
identisch mit diesem, oder er wird zwar als eigenartiger
Begriff betrachtet, bei dem aber gleichwohl die allgemeinsten
formalen Merkmale auf eine bestimmte Form des Begriffs
der Materie, nämlich auf das Atom, zurückführen.

5. Hiernach lassen sich zwei Gestaltungen des sub-
stantiellen Seelenbegriffs unterscheiden, entsprechend den
in § 2 (S. 7) unterschiedenen beiden Richtungen der meta-
physischen Psychologie: die materialistische, welche die
psychischen Vorgänge als Wirkungen der Materie oder ge-
wisser materieller Complexe, wie der Gehirnbestandtheile,
betrachtet, und die spiritualistische, welche dieselben

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[366/0382] V. Die psychische Causalität und ihre Gesetze. dem Bedürfniss nach einem allgemeinen, die Natur und das individuelle Dasein gleichmäßig umfassenden Weltbilde so viel als möglich entgegenzukommen. 4. In diesem mythologisch-metaphysischen Bedürfnisse wurzelt der substantielle Seelenbegriff in seinen verschiedenen Gestaltungen. Hat es auch in der Entwick- lung desselben keineswegs an Bestrebungen gefehlt, auf dem durch ihn geschaffenen Boden den Forderungen psycholo- gischer Causalerklärung einigermaßen gerecht zu werden, so sind doch solche Bestrebungen überall erst nachträglich ent- standen; und unverkennbar würde nicht bloß die psycho- logische Erfahrung unabhängig von jenen ihr fremden metaphysischen Motiven niemals zu einem substantiellen Seelenbegriff geführt haben, sondern es hat auch dieser zweifellos schädigend auf die Auffassung der Erfahrung zurückgewirkt. Die Ansicht z. B., dass alle psychischen Inhalte ihrem Wesen nach Vorstellungen, dass die Vorstel- lungen mehr oder minder unvergängliche Objecte seien u. s. w., würde ohne solche Voraussetzungen kaum verständlich sein. Ueberdies spricht hierfür der enge Zusammenhang, in welchem der substantielle Seelenbegriff mit dem Begriff der materiellen Substanz steht. Entweder wird er nämlich als identisch mit diesem, oder er wird zwar als eigenartiger Begriff betrachtet, bei dem aber gleichwohl die allgemeinsten formalen Merkmale auf eine bestimmte Form des Begriffs der Materie, nämlich auf das Atom, zurückführen. 5. Hiernach lassen sich zwei Gestaltungen des sub- stantiellen Seelenbegriffs unterscheiden, entsprechend den in § 2 (S. 7) unterschiedenen beiden Richtungen der meta- physischen Psychologie: die materialistische, welche die psychischen Vorgänge als Wirkungen der Materie oder ge- wisser materieller Complexe, wie der Gehirnbestandtheile, betrachtet, und die spiritualistische, welche dieselben

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/382>, abgerufen am 24.11.2024.