Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.§ 6. Die reinen Empfindungen. deshalb doch keineswegs eine zusammengesetzte Empfindung.Wohl aber bringt es die in sich geschlossene und stetig zu- sammenhängende Beschaffenheit des Empfindungssystems mit sich, dass die Sprache, der es unmöglich ist eine unbegrenzte Zahl von Bezeichnungen zu schaffen, gewisse besonders ausgeprägte Unterschiede herausgreift, nach denen dann alle andern Em- pfindungen geordnet werden. Dass für die farblose Reihe Schwarz und Weiß als solche Orientirungspunkte gewählt wurden, ist selbstverständlich, da sie die größten Unterschiede bezeichnen: sind sie aber einmal gegeben, so müssen wegen der stetigen Vermittelung dieser Unterschiede durch alle möglichen Hellig- keitsstufen alle andern farblosen Empfindungen als Uebergangs- empfindungen zwischen ihnen aufgefasst werden. Aehnlich ver- hält es sich mit den Farbenempfindungen, nur dass hier wegen der in sich zurücklaufenden Beschaffenheit der Farbenlinie nicht unmittelbar zwei absolut größte Unterschiede gewählt werden konnten, sondern neben der zureichenden qualitativen Verschieden- heit noch andere Motive für die Wahl der Hauptfarben entschei- dend wurden. Als solche wird man wohl die Häufigkeit und die Gefühlsstärke bestimmter in den natürlichen Existenzbedingungen des Menschen begründeter Lichteindrücke betrachten dürfen. Das Roth des Blutes, das Grün der Vegetation, das Blau des Himmels, das Gelb der im Contrast zum blauen Himmmel gelb erscheinenden Gestirne mögen wohl die frühesten Anlässe zur Wahl bestimmter Farbenbezeichnungen gewesen sein. Denn die Sprache benennt allgemein nicht die Objecte nach den Empfin- dungen, sondern umgekehrt die Empfindungen nach den Objecten, durch die sie erzeugt werden. Waren aber einmal auf diese Weise gewisse Hauptfarben festgelegt, so mussten wieder vermöge der Continuität der Empfindungen alle andern als zwischen ihnen liegende Farbentöne erscheinen. Der Unterschied der Haupt- und der Uebergangsfarben ist also höchst wahrscheinlich nur in äußeren Bedingungen begründet; wären diese Bedingungen andere gewesen, so würde z. B. ebenso gut Roth als Uebergang zwischen Purpur und Orange aufgefasst werden können, wie wir jetzt Orange als Uebergangsfarbe zwischen Roth und Gelb ordnen.1) 1) Der nämliche falsche Schluss von der sprachlichen Bezeich-
nung auf die Empfindung hat einige Gelehrte sogar zu der An- § 6. Die reinen Empfindungen. deshalb doch keineswegs eine zusammengesetzte Empfindung.Wohl aber bringt es die in sich geschlossene und stetig zu- sammenhängende Beschaffenheit des Empfindungssystems mit sich, dass die Sprache, der es unmöglich ist eine unbegrenzte Zahl von Bezeichnungen zu schaffen, gewisse besonders ausgeprägte Unterschiede herausgreift, nach denen dann alle andern Em- pfindungen geordnet werden. Dass für die farblose Reihe Schwarz und Weiß als solche Orientirungspunkte gewählt wurden, ist selbstverständlich, da sie die größten Unterschiede bezeichnen: sind sie aber einmal gegeben, so müssen wegen der stetigen Vermittelung dieser Unterschiede durch alle möglichen Hellig- keitsstufen alle andern farblosen Empfindungen als Uebergangs- empfindungen zwischen ihnen aufgefasst werden. Aehnlich ver- hält es sich mit den Farbenempfindungen, nur dass hier wegen der in sich zurücklaufenden Beschaffenheit der Farbenlinie nicht unmittelbar zwei absolut größte Unterschiede gewählt werden konnten, sondern neben der zureichenden qualitativen Verschieden- heit noch andere Motive für die Wahl der Hauptfarben entschei- dend wurden. Als solche wird man wohl die Häufigkeit und die Gefühlsstärke bestimmter in den natürlichen Existenzbedingungen des Menschen begründeter Lichteindrücke betrachten dürfen. Das Roth des Blutes, das Grün der Vegetation, das Blau des Himmels, das Gelb der im Contrast zum blauen Himmmel gelb erscheinenden Gestirne mögen wohl die frühesten Anlässe zur Wahl bestimmter Farbenbezeichnungen gewesen sein. Denn die Sprache benennt allgemein nicht die Objecte nach den Empfin- dungen, sondern umgekehrt die Empfindungen nach den Objecten, durch die sie erzeugt werden. Waren aber einmal auf diese Weise gewisse Hauptfarben festgelegt, so mussten wieder vermöge der Continuität der Empfindungen alle andern als zwischen ihnen liegende Farbentöne erscheinen. Der Unterschied der Haupt- und der Uebergangsfarben ist also höchst wahrscheinlich nur in äußeren Bedingungen begründet; wären diese Bedingungen andere gewesen, so würde z. B. ebenso gut Roth als Uebergang zwischen Purpur und Orange aufgefasst werden können, wie wir jetzt Orange als Uebergangsfarbe zwischen Roth und Gelb ordnen.1) 1) Der nämliche falsche Schluss von der sprachlichen Bezeich-
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§ 6. Die reinen Empfindungen.
deshalb doch keineswegs eine zusammengesetzte Empfindung.
Wohl aber bringt es die in sich geschlossene und stetig zu-
sammenhängende Beschaffenheit des Empfindungssystems mit sich,
dass die Sprache, der es unmöglich ist eine unbegrenzte Zahl
von Bezeichnungen zu schaffen, gewisse besonders ausgeprägte
Unterschiede herausgreift, nach denen dann alle andern Em-
pfindungen geordnet werden. Dass für die farblose Reihe Schwarz
und Weiß als solche Orientirungspunkte gewählt wurden, ist
selbstverständlich, da sie die größten Unterschiede bezeichnen:
sind sie aber einmal gegeben, so müssen wegen der stetigen
Vermittelung dieser Unterschiede durch alle möglichen Hellig-
keitsstufen alle andern farblosen Empfindungen als Uebergangs-
empfindungen zwischen ihnen aufgefasst werden. Aehnlich ver-
hält es sich mit den Farbenempfindungen, nur dass hier wegen
der in sich zurücklaufenden Beschaffenheit der Farbenlinie nicht
unmittelbar zwei absolut größte Unterschiede gewählt werden
konnten, sondern neben der zureichenden qualitativen Verschieden-
heit noch andere Motive für die Wahl der Hauptfarben entschei-
dend wurden. Als solche wird man wohl die Häufigkeit und die
Gefühlsstärke bestimmter in den natürlichen Existenzbedingungen
des Menschen begründeter Lichteindrücke betrachten dürfen.
Das Roth des Blutes, das Grün der Vegetation, das Blau des
Himmels, das Gelb der im Contrast zum blauen Himmmel gelb
erscheinenden Gestirne mögen wohl die frühesten Anlässe zur
Wahl bestimmter Farbenbezeichnungen gewesen sein. Denn die
Sprache benennt allgemein nicht die Objecte nach den Empfin-
dungen, sondern umgekehrt die Empfindungen nach den Objecten,
durch die sie erzeugt werden. Waren aber einmal auf diese
Weise gewisse Hauptfarben festgelegt, so mussten wieder vermöge
der Continuität der Empfindungen alle andern als zwischen ihnen
liegende Farbentöne erscheinen. Der Unterschied der Haupt-
und der Uebergangsfarben ist also höchst wahrscheinlich nur in
äußeren Bedingungen begründet; wären diese Bedingungen andere
gewesen, so würde z. B. ebenso gut Roth als Uebergang zwischen
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