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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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Wirkungen des elektrischen Stroms.
Menge unzersetzter Lösung zur negativen Elektrode. Ausserdem ver-
schwindet 4) eine grosse Menge von Arbeit dadurch, dass die durch
den Strom bewegten Molecüle die ihnen ertheilte Geschwindigkeit
durch Reibung an einander verlieren; diese verlorene Arbeit kommt
als Wärme zum Vorschein. Da nun, wie wir früher gesehen haben,
die entwickelte Wärme dem Leitungswiderstand proportional ist, so
sind auch offenbar die Bewegungshindernisse, welche sich der Wir-
kung des Stromes entgegensetzen, direct proportional dem Leitungs-
widerstand. Hieraus erhellt die innige Beziehung zwischen dem Lei-
tungsvorgang und der chemischen Zersetzung, sowie jenen mechani-
schen Bewegungsphänomenen, die man am Elektrolyten beobachtet.

Wir brauchen nicht näher auszuführen, dass die obigen Betrachtungen auf den
Namen einer strengen Theorie keinen Anspruch machen können. Dieselben haben gros-
sen Theils nur den Zweck, die einzelnen Erscheinungen der Elektrolyse klarer zu ver-
deutlichen. Aber sogar gegen die Grundlage der Grotthuss'schen Theorie, auf wel-
cher diese Betrachtungen aufgebaut sind, wurden neuerdings von Clausius gewich-
tige Einwände erhoben. Damit nämlich die mit einander verbundenen Ionen sich tren-
nen, muss offenbar eine gewisse Kraft ausgeübt werden. Daraus folgt, dass so
lang der Strom im Elektrolyten diese Kraft nicht besitzt, gar keine Zersetzung ein-
treten kann, dass dagegen, wenn die Kraft erreicht ist, mit einem Mal sehr viele Mo-
lecüle, da sie ja alle unter dem Einfluss der nämlichen Kraft stehen, zersetzt werden
müssen. Dies tritt aber nicht ein, sondern der schwächste Strom bewirkt, wie wir
gesehen haben, Zersetzung, und diese wächst proportional der Stromstärke. Clau-
sius
geht, um diese Schwierigkeit zu beseitigen, auf seine Theorie des flüssigen
Aggregatzustandes (§. 284) zurück. Er nimmt an, die Ionen seien überhaupt nicht
fest mit einander verbunden, sondern vollführten Schwingungen nach allen Richtun-
gen, und zwar in einer Flüssigkeit in ziemlich weiten Bahnen, so dass ein positives
Ion leicht in die Wirkungssphäre des negativen Ions eines andern Molecüls geräth,
und umgekehrt. Ein dergestalt frei gewordenes Ion wird sich so lange in der Flüs-
sigkeit weiter bewegen, bis es auf ein entgegengesetztes Ion trifft, mit welchem es
sich verbinden kann. Wird nun ein Strom durch den Elektrolyten geleitet, so wird
derselbe alle positiven Ionen nach der negativen und alle negativen Ionen nach der
positiven Seite zu treiben suchen. Die positiven Ionen werden daher vorherrschend
zur Kathode, die negativen Ionen zur Anode sich begeben. Auf die einzelnen Er-
scheinungen der Elektrolyse ist diese Hypothese bis jetzt noch nicht angewendet
worden.

Indem durch die chemische Zersetzung, welche der Strom in dem327
Galvanische Po-
larisation.
Uebergangswi-
derstand.

flüssigen Leiter bewirkt, die Zusammensetzung des letzteren verändert
wird, kann die Stromstärke eine Abnahme erfahren, entweder da-
durch, dass der Widerstand des flüssigen Leiters zunimmt, oder da-
durch, dass in demselben durch die ausgeschiedenen Zersetzungspro-
ducte eine elektromotorische Kraft entsteht, welche einen Strom in
umgekehrter Richtung verursacht. Am häufigsten ist es die letztere
Ursache, die galvanische Polarisation, welche die durch Flüs-
sigkeiten geführten Ströme inconstant macht. Eine Vergrösserung des

Wundt, medicinische Physik. 32

Wirkungen des elektrischen Stroms.
Menge unzersetzter Lösung zur negativen Elektrode. Ausserdem ver-
schwindet 4) eine grosse Menge von Arbeit dadurch, dass die durch
den Strom bewegten Molecüle die ihnen ertheilte Geschwindigkeit
durch Reibung an einander verlieren; diese verlorene Arbeit kommt
als Wärme zum Vorschein. Da nun, wie wir früher gesehen haben,
die entwickelte Wärme dem Leitungswiderstand proportional ist, so
sind auch offenbar die Bewegungshindernisse, welche sich der Wir-
kung des Stromes entgegensetzen, direct proportional dem Leitungs-
widerstand. Hieraus erhellt die innige Beziehung zwischen dem Lei-
tungsvorgang und der chemischen Zersetzung, sowie jenen mechani-
schen Bewegungsphänomenen, die man am Elektrolyten beobachtet.

Wir brauchen nicht näher auszuführen, dass die obigen Betrachtungen auf den
Namen einer strengen Theorie keinen Anspruch machen können. Dieselben haben gros-
sen Theils nur den Zweck, die einzelnen Erscheinungen der Elektrolyse klarer zu ver-
deutlichen. Aber sogar gegen die Grundlage der Grotthuss’schen Theorie, auf wel-
cher diese Betrachtungen aufgebaut sind, wurden neuerdings von Clausius gewich-
tige Einwände erhoben. Damit nämlich die mit einander verbundenen Ionen sich tren-
nen, muss offenbar eine gewisse Kraft ausgeübt werden. Daraus folgt, dass so
lang der Strom im Elektrolyten diese Kraft nicht besitzt, gar keine Zersetzung ein-
treten kann, dass dagegen, wenn die Kraft erreicht ist, mit einem Mal sehr viele Mo-
lecüle, da sie ja alle unter dem Einfluss der nämlichen Kraft stehen, zersetzt werden
müssen. Dies tritt aber nicht ein, sondern der schwächste Strom bewirkt, wie wir
gesehen haben, Zersetzung, und diese wächst proportional der Stromstärke. Clau-
sius
geht, um diese Schwierigkeit zu beseitigen, auf seine Theorie des flüssigen
Aggregatzustandes (§. 284) zurück. Er nimmt an, die Ionen seien überhaupt nicht
fest mit einander verbunden, sondern vollführten Schwingungen nach allen Richtun-
gen, und zwar in einer Flüssigkeit in ziemlich weiten Bahnen, so dass ein positives
Ion leicht in die Wirkungssphäre des negativen Ions eines andern Molecüls geräth,
und umgekehrt. Ein dergestalt frei gewordenes Ion wird sich so lange in der Flüs-
sigkeit weiter bewegen, bis es auf ein entgegengesetztes Ion trifft, mit welchem es
sich verbinden kann. Wird nun ein Strom durch den Elektrolyten geleitet, so wird
derselbe alle positiven Ionen nach der negativen und alle negativen Ionen nach der
positiven Seite zu treiben suchen. Die positiven Ionen werden daher vorherrschend
zur Kathode, die negativen Ionen zur Anode sich begeben. Auf die einzelnen Er-
scheinungen der Elektrolyse ist diese Hypothese bis jetzt noch nicht angewendet
worden.

Indem durch die chemische Zersetzung, welche der Strom in dem327
Galvanische Po-
larisation.
Uebergangswi-
derstand.

flüssigen Leiter bewirkt, die Zusammensetzung des letzteren verändert
wird, kann die Stromstärke eine Abnahme erfahren, entweder da-
durch, dass der Widerstand des flüssigen Leiters zunimmt, oder da-
durch, dass in demselben durch die ausgeschiedenen Zersetzungspro-
ducte eine elektromotorische Kraft entsteht, welche einen Strom in
umgekehrter Richtung verursacht. Am häufigsten ist es die letztere
Ursache, die galvanische Polarisation, welche die durch Flüs-
sigkeiten geführten Ströme inconstant macht. Eine Vergrösserung des

Wundt, medicinische Physik. 32
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[497/0519] Wirkungen des elektrischen Stroms. Menge unzersetzter Lösung zur negativen Elektrode. Ausserdem ver- schwindet 4) eine grosse Menge von Arbeit dadurch, dass die durch den Strom bewegten Molecüle die ihnen ertheilte Geschwindigkeit durch Reibung an einander verlieren; diese verlorene Arbeit kommt als Wärme zum Vorschein. Da nun, wie wir früher gesehen haben, die entwickelte Wärme dem Leitungswiderstand proportional ist, so sind auch offenbar die Bewegungshindernisse, welche sich der Wir- kung des Stromes entgegensetzen, direct proportional dem Leitungs- widerstand. Hieraus erhellt die innige Beziehung zwischen dem Lei- tungsvorgang und der chemischen Zersetzung, sowie jenen mechani- schen Bewegungsphänomenen, die man am Elektrolyten beobachtet. Wir brauchen nicht näher auszuführen, dass die obigen Betrachtungen auf den Namen einer strengen Theorie keinen Anspruch machen können. Dieselben haben gros- sen Theils nur den Zweck, die einzelnen Erscheinungen der Elektrolyse klarer zu ver- deutlichen. Aber sogar gegen die Grundlage der Grotthuss’schen Theorie, auf wel- cher diese Betrachtungen aufgebaut sind, wurden neuerdings von Clausius gewich- tige Einwände erhoben. Damit nämlich die mit einander verbundenen Ionen sich tren- nen, muss offenbar eine gewisse Kraft ausgeübt werden. Daraus folgt, dass so lang der Strom im Elektrolyten diese Kraft nicht besitzt, gar keine Zersetzung ein- treten kann, dass dagegen, wenn die Kraft erreicht ist, mit einem Mal sehr viele Mo- lecüle, da sie ja alle unter dem Einfluss der nämlichen Kraft stehen, zersetzt werden müssen. Dies tritt aber nicht ein, sondern der schwächste Strom bewirkt, wie wir gesehen haben, Zersetzung, und diese wächst proportional der Stromstärke. Clau- sius geht, um diese Schwierigkeit zu beseitigen, auf seine Theorie des flüssigen Aggregatzustandes (§. 284) zurück. Er nimmt an, die Ionen seien überhaupt nicht fest mit einander verbunden, sondern vollführten Schwingungen nach allen Richtun- gen, und zwar in einer Flüssigkeit in ziemlich weiten Bahnen, so dass ein positives Ion leicht in die Wirkungssphäre des negativen Ions eines andern Molecüls geräth, und umgekehrt. Ein dergestalt frei gewordenes Ion wird sich so lange in der Flüs- sigkeit weiter bewegen, bis es auf ein entgegengesetztes Ion trifft, mit welchem es sich verbinden kann. Wird nun ein Strom durch den Elektrolyten geleitet, so wird derselbe alle positiven Ionen nach der negativen und alle negativen Ionen nach der positiven Seite zu treiben suchen. Die positiven Ionen werden daher vorherrschend zur Kathode, die negativen Ionen zur Anode sich begeben. Auf die einzelnen Er- scheinungen der Elektrolyse ist diese Hypothese bis jetzt noch nicht angewendet worden. Indem durch die chemische Zersetzung, welche der Strom in dem flüssigen Leiter bewirkt, die Zusammensetzung des letzteren verändert wird, kann die Stromstärke eine Abnahme erfahren, entweder da- durch, dass der Widerstand des flüssigen Leiters zunimmt, oder da- durch, dass in demselben durch die ausgeschiedenen Zersetzungspro- ducte eine elektromotorische Kraft entsteht, welche einen Strom in umgekehrter Richtung verursacht. Am häufigsten ist es die letztere Ursache, die galvanische Polarisation, welche die durch Flüs- sigkeiten geführten Ströme inconstant macht. Eine Vergrösserung des 327 Galvanische Po- larisation. Uebergangswi- derstand. Wundt, medicinische Physik. 32

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/519>, abgerufen am 05.12.2024.