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Zetkin, Clara: Das Frauenstimmrecht [Begründung zur Resolution: Das Frauenstimmrecht], in: Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart 18. bis 24. August 1907. Berlin, 1907, S. 40–48.

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sozialen Sein zusammen wird auch ihre Empfindungs- und Gedankenwelt
revolutioniert. Als schreiende Ungerechtigkeit empfindet sie die politische
Rechtlosigkeit, die das weibliche Geschlecht lange Jahrhunderte als
selbstverständlich getragen. Jn langsamem, schmerzensreichem Entwickelungs¬
gange steigt die Frau aus der Enge des alten Familienlebens empor zum
Forum des öffentlichen Lebens. Sie fordert ihre volle politische Gleich¬
berechtigung -- wie sie im Wahlrecht zum Ausdruck kommt -- als soziale
Lebensnotwendigkeit und als soziale Mündigkeitserklärung. Das Wahlrecht
ist das notwendige politische Korrelat der wirtschaftlichen Selbständigkeit
der Frau.

Man sollte meinen, daß angesichts dieser Lage der Dinge das ganze
politisch rechtlose weibliche Geschlecht in einer Phalanx für das allgemeine
Frauenwahlrecht kämpfen müsse. Dem ist jedoch nicht so. Die bürgerlichen
Frauen stehen nicht einmal einheitlich und geschlossen hinter dem Prinzip der
vollen politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, geschweige denn,
daß sie als eine festgefügte Macht mit aller Energie für das allgemeine Frauen¬
wahlrecht kämpfen. Das ist im letzten Grunde nicht der Einsichtslosigkeit, der
kurzsichtigen Taktik der Führerinnen im frauenrechtlerischen Lager geschuldet,
wie manches diese auch auf dem Kerbholz haben mögen. Es ist die unvermeid¬
liche Folge der verschiedenen sozialen Schichtungen innerhalb der Frauenwelt.
Und nicht bloß der Zweck, für den das Wahlrecht eingesetzt wird, auch der Wert
dieses Rechtes selbst ist verschieden je nach der sozialen Schicht, der Frauen an¬
gehören. Der Wert des Wahlrechtes steht im umgekehrten Verhältnis zur
Größe des Besitzes. Er ist am geringsten für die Frauen der oberen Zehn¬
tausend, er ist am größten für die Proletarierinnen. So wird auch das Ringen
für das Frauenwahlrecht von dem Klassengegensatz und dem Klassenkampf
beherrscht; es kann kein einheitliches Ringen des gesamten Geschlechts sein,
insbesondere dann nicht, wenn es nicht einem blutlosen Prinzip, sondern dem
einzig konkreten, lebensvollen Jnhalt desselben gilt: dem allgemeinen Frauen¬
wahlrecht. Wir können den bürgerlichen Frauen nicht zumuten, über ihren
eigenen Schatten zu springen. Die Proletarierinnen können daher im Kampfe
um ihr Bürgerrecht nicht auf die Unterstützung der bürgerlichen Frauen zählen,
die Klassengegensätze schließen aus, daß sie sich der bürgerlichen Frauenbewegung
in ihrem Kampfe anschließen. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie die bürger¬
lichen Frauenrechtlerinnen zurückweisen, wenn diese sich im Kampfe für das
allgemeine Frauenwahlrecht hinter und neben sie selbst stellen, um bei einem
Getrenntmarschieren vereint zu schlagen. Aber die Proletarierinnen müssen
klar darüber sein, daß sie das Wahlrecht nicht erobern können in einem
Kampfe des weiblichen Geschlechts ohne Unterschied der Klasse gegen das
männliche Geschlecht, sondern nur im Klassenkampf aller Ausgebeuteten ohne
Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeuter, ebenfalls ohne Unterschied
des Geschlechts.

Jn ihrem Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht finden die prole¬
tarischen Frauen eine starke Bundesgenossenschaft in den sozialistischen Parteien
aller Länder. Das Eintreten der sozialistischen Parteien für das Frauenwahl¬
recht ist nicht begründet in ideologischen und ethischen Erwägungen. Es wird
diktiert von der geschichtlichen Erkenntnis und vor allem von dem Verständnis
für die Klassenlage, für praktische Kampfesbedürfnisse des Proletariats. Dieses
kann seine wirtschaftlichen und politischen Schlachten nicht schlagen ohne die
Anteilnahme seiner Frauen, die zum Klassenbewußtsein erwacht, die gesammelt
und geschult und mit sozialen Kampfesrechten ausgerüstet sind. Dank der
steigenden Verwendung der Frauenarbeit in der Jndustrie können in vielen
Gewerben Lohnbewegungen nur durchgeführt werden, wenn auch die Arbeite¬
rinnen als geschulte und organisierte Klassenkämpferinnen an ihnen teil¬
nehmen. Und auch die politische Arbeit, der politische Kampf des Proletariats


sozialen Sein zusammen wird auch ihre Empfindungs- und Gedankenwelt
revolutioniert. Als schreiende Ungerechtigkeit empfindet sie die politische
Rechtlosigkeit, die das weibliche Geschlecht lange Jahrhunderte als
selbstverständlich getragen. Jn langsamem, schmerzensreichem Entwickelungs¬
gange steigt die Frau aus der Enge des alten Familienlebens empor zum
Forum des öffentlichen Lebens. Sie fordert ihre volle politische Gleich¬
berechtigung — wie sie im Wahlrecht zum Ausdruck kommt — als soziale
Lebensnotwendigkeit und als soziale Mündigkeitserklärung. Das Wahlrecht
ist das notwendige politische Korrelat der wirtschaftlichen Selbständigkeit
der Frau.

Man sollte meinen, daß angesichts dieser Lage der Dinge das ganze
politisch rechtlose weibliche Geschlecht in einer Phalanx für das allgemeine
Frauenwahlrecht kämpfen müsse. Dem ist jedoch nicht so. Die bürgerlichen
Frauen stehen nicht einmal einheitlich und geschlossen hinter dem Prinzip der
vollen politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, geschweige denn,
daß sie als eine festgefügte Macht mit aller Energie für das allgemeine Frauen¬
wahlrecht kämpfen. Das ist im letzten Grunde nicht der Einsichtslosigkeit, der
kurzsichtigen Taktik der Führerinnen im frauenrechtlerischen Lager geschuldet,
wie manches diese auch auf dem Kerbholz haben mögen. Es ist die unvermeid¬
liche Folge der verschiedenen sozialen Schichtungen innerhalb der Frauenwelt.
Und nicht bloß der Zweck, für den das Wahlrecht eingesetzt wird, auch der Wert
dieses Rechtes selbst ist verschieden je nach der sozialen Schicht, der Frauen an¬
gehören. Der Wert des Wahlrechtes steht im umgekehrten Verhältnis zur
Größe des Besitzes. Er ist am geringsten für die Frauen der oberen Zehn¬
tausend, er ist am größten für die Proletarierinnen. So wird auch das Ringen
für das Frauenwahlrecht von dem Klassengegensatz und dem Klassenkampf
beherrscht; es kann kein einheitliches Ringen des gesamten Geschlechts sein,
insbesondere dann nicht, wenn es nicht einem blutlosen Prinzip, sondern dem
einzig konkreten, lebensvollen Jnhalt desselben gilt: dem allgemeinen Frauen¬
wahlrecht. Wir können den bürgerlichen Frauen nicht zumuten, über ihren
eigenen Schatten zu springen. Die Proletarierinnen können daher im Kampfe
um ihr Bürgerrecht nicht auf die Unterstützung der bürgerlichen Frauen zählen,
die Klassengegensätze schließen aus, daß sie sich der bürgerlichen Frauenbewegung
in ihrem Kampfe anschließen. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie die bürger¬
lichen Frauenrechtlerinnen zurückweisen, wenn diese sich im Kampfe für das
allgemeine Frauenwahlrecht hinter und neben sie selbst stellen, um bei einem
Getrenntmarschieren vereint zu schlagen. Aber die Proletarierinnen müssen
klar darüber sein, daß sie das Wahlrecht nicht erobern können in einem
Kampfe des weiblichen Geschlechts ohne Unterschied der Klasse gegen das
männliche Geschlecht, sondern nur im Klassenkampf aller Ausgebeuteten ohne
Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeuter, ebenfalls ohne Unterschied
des Geschlechts.

Jn ihrem Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht finden die prole¬
tarischen Frauen eine starke Bundesgenossenschaft in den sozialistischen Parteien
aller Länder. Das Eintreten der sozialistischen Parteien für das Frauenwahl¬
recht ist nicht begründet in ideologischen und ethischen Erwägungen. Es wird
diktiert von der geschichtlichen Erkenntnis und vor allem von dem Verständnis
für die Klassenlage, für praktische Kampfesbedürfnisse des Proletariats. Dieses
kann seine wirtschaftlichen und politischen Schlachten nicht schlagen ohne die
Anteilnahme seiner Frauen, die zum Klassenbewußtsein erwacht, die gesammelt
und geschult und mit sozialen Kampfesrechten ausgerüstet sind. Dank der
steigenden Verwendung der Frauenarbeit in der Jndustrie können in vielen
Gewerben Lohnbewegungen nur durchgeführt werden, wenn auch die Arbeite¬
rinnen als geschulte und organisierte Klassenkämpferinnen an ihnen teil¬
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[42/0004] sozialen Sein zusammen wird auch ihre Empfindungs- und Gedankenwelt revolutioniert. Als schreiende Ungerechtigkeit empfindet sie die politische Rechtlosigkeit, die das weibliche Geschlecht lange Jahrhunderte als selbstverständlich getragen. Jn langsamem, schmerzensreichem Entwickelungs¬ gange steigt die Frau aus der Enge des alten Familienlebens empor zum Forum des öffentlichen Lebens. Sie fordert ihre volle politische Gleich¬ berechtigung — wie sie im Wahlrecht zum Ausdruck kommt — als soziale Lebensnotwendigkeit und als soziale Mündigkeitserklärung. Das Wahlrecht ist das notwendige politische Korrelat der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Frau. Man sollte meinen, daß angesichts dieser Lage der Dinge das ganze politisch rechtlose weibliche Geschlecht in einer Phalanx für das allgemeine Frauenwahlrecht kämpfen müsse. Dem ist jedoch nicht so. Die bürgerlichen Frauen stehen nicht einmal einheitlich und geschlossen hinter dem Prinzip der vollen politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, geschweige denn, daß sie als eine festgefügte Macht mit aller Energie für das allgemeine Frauen¬ wahlrecht kämpfen. Das ist im letzten Grunde nicht der Einsichtslosigkeit, der kurzsichtigen Taktik der Führerinnen im frauenrechtlerischen Lager geschuldet, wie manches diese auch auf dem Kerbholz haben mögen. Es ist die unvermeid¬ liche Folge der verschiedenen sozialen Schichtungen innerhalb der Frauenwelt. Und nicht bloß der Zweck, für den das Wahlrecht eingesetzt wird, auch der Wert dieses Rechtes selbst ist verschieden je nach der sozialen Schicht, der Frauen an¬ gehören. Der Wert des Wahlrechtes steht im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Besitzes. Er ist am geringsten für die Frauen der oberen Zehn¬ tausend, er ist am größten für die Proletarierinnen. So wird auch das Ringen für das Frauenwahlrecht von dem Klassengegensatz und dem Klassenkampf beherrscht; es kann kein einheitliches Ringen des gesamten Geschlechts sein, insbesondere dann nicht, wenn es nicht einem blutlosen Prinzip, sondern dem einzig konkreten, lebensvollen Jnhalt desselben gilt: dem allgemeinen Frauen¬ wahlrecht. Wir können den bürgerlichen Frauen nicht zumuten, über ihren eigenen Schatten zu springen. Die Proletarierinnen können daher im Kampfe um ihr Bürgerrecht nicht auf die Unterstützung der bürgerlichen Frauen zählen, die Klassengegensätze schließen aus, daß sie sich der bürgerlichen Frauenbewegung in ihrem Kampfe anschließen. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie die bürger¬ lichen Frauenrechtlerinnen zurückweisen, wenn diese sich im Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht hinter und neben sie selbst stellen, um bei einem Getrenntmarschieren vereint zu schlagen. Aber die Proletarierinnen müssen klar darüber sein, daß sie das Wahlrecht nicht erobern können in einem Kampfe des weiblichen Geschlechts ohne Unterschied der Klasse gegen das männliche Geschlecht, sondern nur im Klassenkampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeuter, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts. Jn ihrem Kampfe für das allgemeine Frauenwahlrecht finden die prole¬ tarischen Frauen eine starke Bundesgenossenschaft in den sozialistischen Parteien aller Länder. Das Eintreten der sozialistischen Parteien für das Frauenwahl¬ recht ist nicht begründet in ideologischen und ethischen Erwägungen. Es wird diktiert von der geschichtlichen Erkenntnis und vor allem von dem Verständnis für die Klassenlage, für praktische Kampfesbedürfnisse des Proletariats. Dieses kann seine wirtschaftlichen und politischen Schlachten nicht schlagen ohne die Anteilnahme seiner Frauen, die zum Klassenbewußtsein erwacht, die gesammelt und geschult und mit sozialen Kampfesrechten ausgerüstet sind. Dank der steigenden Verwendung der Frauenarbeit in der Jndustrie können in vielen Gewerben Lohnbewegungen nur durchgeführt werden, wenn auch die Arbeite¬ rinnen als geschulte und organisierte Klassenkämpferinnen an ihnen teil¬ nehmen. Und auch die politische Arbeit, der politische Kampf des Proletariats

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Zitationshilfe: Zetkin, Clara: Das Frauenstimmrecht [Begründung zur Resolution: Das Frauenstimmrecht], in: Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart 18. bis 24. August 1907. Berlin, 1907, S. 40–48, hier S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zetkin_frauenstimmrecht_1907/4>, abgerufen am 23.11.2024.