Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.er Marie und dem Vater ein in Glas und Rahmen gefaßtes Stammbuchblatt gebracht, es selbst aufgehängt und gebeten, sich dabei seiner zu erinnern. Es werde, hatte er hinzugefügt, einst eine Zeit kommen, in der sie die Worte, die er darauf geschrieben, verständen, vielleicht werde er dann wiederkommen aus der Fremde, in der er mehr Freiheit zu finden hoffe. Die Worte lauteten: Ein alter Weiser hat gesagt, die Gerechtigkeit sei ein Mittel der Tyrannis; ich aber sage: Die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit. Er war abgereis't, man wußte nicht wohin; der Müller und der Schmied hatten seiner am längsten gedacht, während die Bauern ihn als närrischen Menschen bald vergaßen. Marie hatte für ihn nie etwas Anderes gefühlt, als herzliches Zutrauen, und da der junge Mann sich ihr nie erklärt, so war die Stimmung für ihn rein und unverfälscht geblieben. Oft hatten die Alten, wenn sie die Worte des Lehrers lasen, den Kopf geschüttelt, und sie sahen in ihnen bald nicht Mehr als die schöne Handschrift; den Sinn zu entziffern, hatten sie sich kaum die Mühe gegeben. -- Als der Prozeß wegen des Bauernguts in dritter Instanz für den Müller verloren ging, war der Actuar seltener gekommen und hatte endlich mit Hinweisung auf sein geringes Gehalt sogar abgeschrieben. Der Müller und sein Freund hatten dies fast natürlich gefunden; denn die harten Landleute dieser Gegend sind er Marie und dem Vater ein in Glas und Rahmen gefaßtes Stammbuchblatt gebracht, es selbst aufgehängt und gebeten, sich dabei seiner zu erinnern. Es werde, hatte er hinzugefügt, einst eine Zeit kommen, in der sie die Worte, die er darauf geschrieben, verständen, vielleicht werde er dann wiederkommen aus der Fremde, in der er mehr Freiheit zu finden hoffe. Die Worte lauteten: Ein alter Weiser hat gesagt, die Gerechtigkeit sei ein Mittel der Tyrannis; ich aber sage: Die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit. Er war abgereis't, man wußte nicht wohin; der Müller und der Schmied hatten seiner am längsten gedacht, während die Bauern ihn als närrischen Menschen bald vergaßen. Marie hatte für ihn nie etwas Anderes gefühlt, als herzliches Zutrauen, und da der junge Mann sich ihr nie erklärt, so war die Stimmung für ihn rein und unverfälscht geblieben. Oft hatten die Alten, wenn sie die Worte des Lehrers lasen, den Kopf geschüttelt, und sie sahen in ihnen bald nicht Mehr als die schöne Handschrift; den Sinn zu entziffern, hatten sie sich kaum die Mühe gegeben. — Als der Prozeß wegen des Bauernguts in dritter Instanz für den Müller verloren ging, war der Actuar seltener gekommen und hatte endlich mit Hinweisung auf sein geringes Gehalt sogar abgeschrieben. Der Müller und sein Freund hatten dies fast natürlich gefunden; denn die harten Landleute dieser Gegend sind <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0019"/> er Marie und dem Vater ein in Glas und Rahmen gefaßtes Stammbuchblatt gebracht, es selbst aufgehängt und gebeten, sich dabei seiner zu erinnern. Es werde, hatte er hinzugefügt, einst eine Zeit kommen, in der sie die Worte, die er darauf geschrieben, verständen, vielleicht werde er dann wiederkommen aus der Fremde, in der er mehr Freiheit zu finden hoffe. Die Worte lauteten: Ein alter Weiser hat gesagt, die Gerechtigkeit sei ein Mittel der Tyrannis; ich aber sage: Die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit.</p><lb/> <p>Er war abgereis't, man wußte nicht wohin; der Müller und der Schmied hatten seiner am längsten gedacht, während die Bauern ihn als närrischen Menschen bald vergaßen. Marie hatte für ihn nie etwas Anderes gefühlt, als herzliches Zutrauen, und da der junge Mann sich ihr nie erklärt, so war die Stimmung für ihn rein und unverfälscht geblieben.</p><lb/> <p>Oft hatten die Alten, wenn sie die Worte des Lehrers lasen, den Kopf geschüttelt, und sie sahen in ihnen bald nicht Mehr als die schöne Handschrift; den Sinn zu entziffern, hatten sie sich kaum die Mühe gegeben. —</p><lb/> <p>Als der Prozeß wegen des Bauernguts in dritter Instanz für den Müller verloren ging, war der Actuar seltener gekommen und hatte endlich mit Hinweisung auf sein geringes Gehalt sogar abgeschrieben. Der Müller und sein Freund hatten dies fast natürlich gefunden; denn die harten Landleute dieser Gegend sind<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
er Marie und dem Vater ein in Glas und Rahmen gefaßtes Stammbuchblatt gebracht, es selbst aufgehängt und gebeten, sich dabei seiner zu erinnern. Es werde, hatte er hinzugefügt, einst eine Zeit kommen, in der sie die Worte, die er darauf geschrieben, verständen, vielleicht werde er dann wiederkommen aus der Fremde, in der er mehr Freiheit zu finden hoffe. Die Worte lauteten: Ein alter Weiser hat gesagt, die Gerechtigkeit sei ein Mittel der Tyrannis; ich aber sage: Die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit.
Er war abgereis't, man wußte nicht wohin; der Müller und der Schmied hatten seiner am längsten gedacht, während die Bauern ihn als närrischen Menschen bald vergaßen. Marie hatte für ihn nie etwas Anderes gefühlt, als herzliches Zutrauen, und da der junge Mann sich ihr nie erklärt, so war die Stimmung für ihn rein und unverfälscht geblieben.
Oft hatten die Alten, wenn sie die Worte des Lehrers lasen, den Kopf geschüttelt, und sie sahen in ihnen bald nicht Mehr als die schöne Handschrift; den Sinn zu entziffern, hatten sie sich kaum die Mühe gegeben. —
Als der Prozeß wegen des Bauernguts in dritter Instanz für den Müller verloren ging, war der Actuar seltener gekommen und hatte endlich mit Hinweisung auf sein geringes Gehalt sogar abgeschrieben. Der Müller und sein Freund hatten dies fast natürlich gefunden; denn die harten Landleute dieser Gegend sind
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