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Zietz, Luise: Das Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Ersten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 19. März 1911, S. 4-5.

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Frauenwahlrecht
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Das Frauenwahlrecht,
ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit.

Als ein Recht der Persönlichkeit reklamieren wir Sozia-
listinnen das Frauenwahlrecht, und deshalb kann für uns ledig-
lich das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht
in Betracht kommen. Jedes beschränkte Frauenwahlrecht da-
gegen, sei es gebunden an eine bestimmte Steuerleistung, an[Spaltenumbruch] einen bestimmten Bildungsgrad, oder sei es sonstwie von Be-
dingungen abhängig, charakterisiert sich als ein Recht des Be-
sitzes, das die Persönlichkeit erschlägt.

Nur wenn das Wahlrecht ein Recht der Persönlichkeit, wenn
es allgemein und gleich ist, erweist es sich als eine Waffe, als
ein Stück politischer Macht in der Hand einer jeden Frau,
während es als beschränktes Wahlrecht eine Vermehrung und
eine Befestigung der politischen Macht der Herrschenden schafft
und damit einen Bruch des demokratischen Prinzips darstellt.
Jndem das beschränkte Frauenwahlrecht den politischen Ein-
fluß der Besitzenden stärkt, erhöht es das Bollwerk, das sich der
Anerkennung des Rechtes der Persönlichkeit der Proletarierin,
ihrer politischen Gleichberechtigung entgegenstellt, und verschärft
gleichzeitig ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und Not, zu deren
Lockerung und Linderung es beitragen sollte.

Sicher aber hat die Proletarierin mindestens den gleichen
Rechtstitel auf das volle Bürgerrecht wie die Dame der Bour-
geoisie: Größer und umfangreicher wird von Jahr zu Jahr
der Anteil, den die Frauen am Produktionsprozeß der kapita-
listischen Gesellschaft haben, und die erdrückende Überzahl der er-
werbstätigen Frauen sind Proletarierinnen. Sie heischen kein
Vorrecht, aber gleiches Recht. Wieviel Frauen in Deutschland
mit Hand und Hirn fronden, um die Güter zu schaffen, die
zur Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft notwendig
sind, wie ihre Zahl rapid wächst, schneller sogar als die weib-
liche Bevölkerung, das beweisen die Ergebnisse der Berufs-, Ge-
werbe- und Volkszählung: 1882 wurden 5541517 weibliche Er-
werbstätige gezählt, 1895 6578550 und 1907 sogar 9492881.
Das ist seit 1882 fast eine Verdopplung, und weitere Zu-
nahmen sind seit 1907 bereits erfolgt.

Jedoch noch eine andere, nicht minder stichhaltige Begrün-
dung vermögen die Frauen für ihren Rechtsanspruch ins Feld
zu führen: Es ist die Bedeutung ihrer Leistungen für die Fort-
pflanzung und Erhaltung der Art. Die Frauen haben die kom-
mende Generation zu gebären, zu pflegen und zu erziehen. Mit
der Erfüllung dieser Verpflichtung leisten sie der Gesellschaft
den wichtigsten Dienst, der für sie ein schwerer und gefahrvoller
ist und es unter den Geißelhieben kapitalistischer Ausbeutung
in immer höherem Maße wird. Sterben doch jährlich in Deutsch-
land zirka 10000 Frauen bei oder gleich nach der Entbin-
dung. 50000 Frauen erkranken schwer an den Folgen von
Wochenbett und Schwangerschaft. Das sind furchtbare Opfer
im Dienste der Mutterschaft! Die Frau des zwanzigsten Jahr-
hunderts leistet aber nicht etwa einem Automaten gleich diesen
Dienst, sondern sie ist sich seiner Bedeutung für die Gesellschaft
bewußt geworden wie auch ihrer eigenen gewandelten Stellung
in derselben und damit ihres Anspruchs auf volles Bürgerrecht.

Dieselben gesellschaftlichen Mächte, die sie lehrten, ihren
wohlbegründeten Anspruch auf volles Bürgerrecht zu erkennen,
lehren sie gleichfalls dessen Wert und die Notwendigkeit seines
Besitzes. Gleich dem Manne in langer Tagesfron an die Ma-
schine gefesselt, auf dem Bau, in der Ziegelei, im Kontor, im
Laden oder auf dem Felde tätig, erkennt die Frau, daß sie des
Wahlrechts bedarf zur Sicherung und Erweiterung des Koali-
tionsrechts, zum Ausbau der Sozialgesetzgebung, zum wirksamen
Kampfe gegen den Zollwucher, gegen den Vampir Militaris-
mus usw., kurzum zur Beeinflussung aller gesetzlichen Maß-
nahmen und Einrichtungen, die das Jnteresse der Frau mit
dem öffentlichen Leben verknüpfen. Am schärfsten fühlt deshalb
die Frau die brennende Schmach ihrer Rechtlosigkeit, ihrer poli-
tischen Helotenstellung bei den Wahlen, bei denen sie in auf-
gezwungener Passivität verharren muß. Vor allem die Prole-
tarierin, die neben dem kapitalistisch ausgebeuteten Manne im
Kampfe um eine hellere Gegenwart und sonnige Zukunft steht!
Gleich dem Manne von der Not des Lebens gepeitscht, gleich
ihm von der Erkenntnis des wirtschaftlichen und politischen
Geschehens und seiner treibenden Kräfte durchdrungen, gleich
ihm freiheitsdurstend und sonnensehnsüchtig: sieht sie sich der
wichtigsten Waffe für den Befreiungskampf ihrer Klasse be-
raubt. Der Waffe, die es ihr ermöglichen sollte, Reformen zu
erzwingen, die gleichermaßen ihr eigenes Leben wie das Leben
ihrer Klasse erhellen und deren Kampfesfähigkeit stärken, aber[Spaltenumbruch]

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Frauenwahlrecht
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Das Frauenwahlrecht,
ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit.

Als ein Recht der Persönlichkeit reklamieren wir Sozia-
listinnen das Frauenwahlrecht, und deshalb kann für uns ledig-
lich das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht
in Betracht kommen. Jedes beschränkte Frauenwahlrecht da-
gegen, sei es gebunden an eine bestimmte Steuerleistung, an[Spaltenumbruch] einen bestimmten Bildungsgrad, oder sei es sonstwie von Be-
dingungen abhängig, charakterisiert sich als ein Recht des Be-
sitzes, das die Persönlichkeit erschlägt.

Nur wenn das Wahlrecht ein Recht der Persönlichkeit, wenn
es allgemein und gleich ist, erweist es sich als eine Waffe, als
ein Stück politischer Macht in der Hand einer jeden Frau,
während es als beschränktes Wahlrecht eine Vermehrung und
eine Befestigung der politischen Macht der Herrschenden schafft
und damit einen Bruch des demokratischen Prinzips darstellt.
Jndem das beschränkte Frauenwahlrecht den politischen Ein-
fluß der Besitzenden stärkt, erhöht es das Bollwerk, das sich der
Anerkennung des Rechtes der Persönlichkeit der Proletarierin,
ihrer politischen Gleichberechtigung entgegenstellt, und verschärft
gleichzeitig ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und Not, zu deren
Lockerung und Linderung es beitragen sollte.

Sicher aber hat die Proletarierin mindestens den gleichen
Rechtstitel auf das volle Bürgerrecht wie die Dame der Bour-
geoisie: Größer und umfangreicher wird von Jahr zu Jahr
der Anteil, den die Frauen am Produktionsprozeß der kapita-
listischen Gesellschaft haben, und die erdrückende Überzahl der er-
werbstätigen Frauen sind Proletarierinnen. Sie heischen kein
Vorrecht, aber gleiches Recht. Wieviel Frauen in Deutschland
mit Hand und Hirn fronden, um die Güter zu schaffen, die
zur Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft notwendig
sind, wie ihre Zahl rapid wächst, schneller sogar als die weib-
liche Bevölkerung, das beweisen die Ergebnisse der Berufs-, Ge-
werbe- und Volkszählung: 1882 wurden 5541517 weibliche Er-
werbstätige gezählt, 1895 6578550 und 1907 sogar 9492881.
Das ist seit 1882 fast eine Verdopplung, und weitere Zu-
nahmen sind seit 1907 bereits erfolgt.

Jedoch noch eine andere, nicht minder stichhaltige Begrün-
dung vermögen die Frauen für ihren Rechtsanspruch ins Feld
zu führen: Es ist die Bedeutung ihrer Leistungen für die Fort-
pflanzung und Erhaltung der Art. Die Frauen haben die kom-
mende Generation zu gebären, zu pflegen und zu erziehen. Mit
der Erfüllung dieser Verpflichtung leisten sie der Gesellschaft
den wichtigsten Dienst, der für sie ein schwerer und gefahrvoller
ist und es unter den Geißelhieben kapitalistischer Ausbeutung
in immer höherem Maße wird. Sterben doch jährlich in Deutsch-
land zirka 10000 Frauen bei oder gleich nach der Entbin-
dung. 50000 Frauen erkranken schwer an den Folgen von
Wochenbett und Schwangerschaft. Das sind furchtbare Opfer
im Dienste der Mutterschaft! Die Frau des zwanzigsten Jahr-
hunderts leistet aber nicht etwa einem Automaten gleich diesen
Dienst, sondern sie ist sich seiner Bedeutung für die Gesellschaft
bewußt geworden wie auch ihrer eigenen gewandelten Stellung
in derselben und damit ihres Anspruchs auf volles Bürgerrecht.

Dieselben gesellschaftlichen Mächte, die sie lehrten, ihren
wohlbegründeten Anspruch auf volles Bürgerrecht zu erkennen,
lehren sie gleichfalls dessen Wert und die Notwendigkeit seines
Besitzes. Gleich dem Manne in langer Tagesfron an die Ma-
schine gefesselt, auf dem Bau, in der Ziegelei, im Kontor, im
Laden oder auf dem Felde tätig, erkennt die Frau, daß sie des
Wahlrechts bedarf zur Sicherung und Erweiterung des Koali-
tionsrechts, zum Ausbau der Sozialgesetzgebung, zum wirksamen
Kampfe gegen den Zollwucher, gegen den Vampir Militaris-
mus usw., kurzum zur Beeinflussung aller gesetzlichen Maß-
nahmen und Einrichtungen, die das Jnteresse der Frau mit
dem öffentlichen Leben verknüpfen. Am schärfsten fühlt deshalb
die Frau die brennende Schmach ihrer Rechtlosigkeit, ihrer poli-
tischen Helotenstellung bei den Wahlen, bei denen sie in auf-
gezwungener Passivität verharren muß. Vor allem die Prole-
tarierin, die neben dem kapitalistisch ausgebeuteten Manne im
Kampfe um eine hellere Gegenwart und sonnige Zukunft steht!
Gleich dem Manne von der Not des Lebens gepeitscht, gleich
ihm von der Erkenntnis des wirtschaftlichen und politischen
Geschehens und seiner treibenden Kräfte durchdrungen, gleich
ihm freiheitsdurstend und sonnensehnsüchtig: sieht sie sich der
wichtigsten Waffe für den Befreiungskampf ihrer Klasse be-
raubt. Der Waffe, die es ihr ermöglichen sollte, Reformen zu
erzwingen, die gleichermaßen ihr eigenes Leben wie das Leben
ihrer Klasse erhellen und deren Kampfesfähigkeit stärken, aber[Spaltenumbruch]

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[4/0001] Frauenwahlrecht ______________________________________________________________ Das Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit. Als ein Recht der Persönlichkeit reklamieren wir Sozia- listinnen das Frauenwahlrecht, und deshalb kann für uns ledig- lich das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in Betracht kommen. Jedes beschränkte Frauenwahlrecht da- gegen, sei es gebunden an eine bestimmte Steuerleistung, an einen bestimmten Bildungsgrad, oder sei es sonstwie von Be- dingungen abhängig, charakterisiert sich als ein Recht des Be- sitzes, das die Persönlichkeit erschlägt. Nur wenn das Wahlrecht ein Recht der Persönlichkeit, wenn es allgemein und gleich ist, erweist es sich als eine Waffe, als ein Stück politischer Macht in der Hand einer jeden Frau, während es als beschränktes Wahlrecht eine Vermehrung und eine Befestigung der politischen Macht der Herrschenden schafft und damit einen Bruch des demokratischen Prinzips darstellt. Jndem das beschränkte Frauenwahlrecht den politischen Ein- fluß der Besitzenden stärkt, erhöht es das Bollwerk, das sich der Anerkennung des Rechtes der Persönlichkeit der Proletarierin, ihrer politischen Gleichberechtigung entgegenstellt, und verschärft gleichzeitig ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und Not, zu deren Lockerung und Linderung es beitragen sollte. Sicher aber hat die Proletarierin mindestens den gleichen Rechtstitel auf das volle Bürgerrecht wie die Dame der Bour- geoisie: Größer und umfangreicher wird von Jahr zu Jahr der Anteil, den die Frauen am Produktionsprozeß der kapita- listischen Gesellschaft haben, und die erdrückende Überzahl der er- werbstätigen Frauen sind Proletarierinnen. Sie heischen kein Vorrecht, aber gleiches Recht. Wieviel Frauen in Deutschland mit Hand und Hirn fronden, um die Güter zu schaffen, die zur Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft notwendig sind, wie ihre Zahl rapid wächst, schneller sogar als die weib- liche Bevölkerung, das beweisen die Ergebnisse der Berufs-, Ge- werbe- und Volkszählung: 1882 wurden 5541517 weibliche Er- werbstätige gezählt, 1895 6578550 und 1907 sogar 9492881. Das ist seit 1882 fast eine Verdopplung, und weitere Zu- nahmen sind seit 1907 bereits erfolgt. Jedoch noch eine andere, nicht minder stichhaltige Begrün- dung vermögen die Frauen für ihren Rechtsanspruch ins Feld zu führen: Es ist die Bedeutung ihrer Leistungen für die Fort- pflanzung und Erhaltung der Art. Die Frauen haben die kom- mende Generation zu gebären, zu pflegen und zu erziehen. Mit der Erfüllung dieser Verpflichtung leisten sie der Gesellschaft den wichtigsten Dienst, der für sie ein schwerer und gefahrvoller ist und es unter den Geißelhieben kapitalistischer Ausbeutung in immer höherem Maße wird. Sterben doch jährlich in Deutsch- land zirka 10000 Frauen bei oder gleich nach der Entbin- dung. 50000 Frauen erkranken schwer an den Folgen von Wochenbett und Schwangerschaft. Das sind furchtbare Opfer im Dienste der Mutterschaft! Die Frau des zwanzigsten Jahr- hunderts leistet aber nicht etwa einem Automaten gleich diesen Dienst, sondern sie ist sich seiner Bedeutung für die Gesellschaft bewußt geworden wie auch ihrer eigenen gewandelten Stellung in derselben und damit ihres Anspruchs auf volles Bürgerrecht. Dieselben gesellschaftlichen Mächte, die sie lehrten, ihren wohlbegründeten Anspruch auf volles Bürgerrecht zu erkennen, lehren sie gleichfalls dessen Wert und die Notwendigkeit seines Besitzes. Gleich dem Manne in langer Tagesfron an die Ma- schine gefesselt, auf dem Bau, in der Ziegelei, im Kontor, im Laden oder auf dem Felde tätig, erkennt die Frau, daß sie des Wahlrechts bedarf zur Sicherung und Erweiterung des Koali- tionsrechts, zum Ausbau der Sozialgesetzgebung, zum wirksamen Kampfe gegen den Zollwucher, gegen den Vampir Militaris- mus usw., kurzum zur Beeinflussung aller gesetzlichen Maß- nahmen und Einrichtungen, die das Jnteresse der Frau mit dem öffentlichen Leben verknüpfen. Am schärfsten fühlt deshalb die Frau die brennende Schmach ihrer Rechtlosigkeit, ihrer poli- tischen Helotenstellung bei den Wahlen, bei denen sie in auf- gezwungener Passivität verharren muß. Vor allem die Prole- tarierin, die neben dem kapitalistisch ausgebeuteten Manne im Kampfe um eine hellere Gegenwart und sonnige Zukunft steht! Gleich dem Manne von der Not des Lebens gepeitscht, gleich ihm von der Erkenntnis des wirtschaftlichen und politischen Geschehens und seiner treibenden Kräfte durchdrungen, gleich ihm freiheitsdurstend und sonnensehnsüchtig: sieht sie sich der wichtigsten Waffe für den Befreiungskampf ihrer Klasse be- raubt. Der Waffe, die es ihr ermöglichen sollte, Reformen zu erzwingen, die gleichermaßen ihr eigenes Leben wie das Leben ihrer Klasse erhellen und deren Kampfesfähigkeit stärken, aber

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Zitationshilfe: Zietz, Luise: Das Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Ersten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 19. März 1911, S. 4-5, hier S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zietz_frauenwahlrecht_1911/1>, abgerufen am 16.04.2024.