Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. urzeitlicher Ehesitten und Vertheidiger der Annahme eines allmäh-ligen Hervorgehens gesitteter Eheverhältnisse aus ursprünglicher Po- lyandrie der Weiber.1) Diese Alle sind, was reichhaltige Zusammen- stellung und geschickte Entwicklung von Gründen für die Hypothese des "Savagismus" oder der Urwildheit betrifft, übertroffen worden durch Edward B. Tylor, den eigentlichen König dieses Forschungs- bereichs, soweit dasselbe von Gelehrten englischer Zunge bisher an- gebaut worden. Die hieher gehörigen Schriften Tylor's, insbesondere seine 1871 erschienenen "Anfänge der Cultur" müssen als die wahren standard work's der naturalistischen Richtung auf unsrem Gebiete gelten. Jhre Ausführungen imponiren um so mehr, da sie bei Zu- rückweisung der gegnerischen Ansichten eine gewisse vorsichtige Mäßi- gung beobachten, ihre Polemik fast mehr nur gegen die Uebertrei- bungen Whately's als gegen das degradationistische Princip an sich zu richten scheinen, und manche Fälle stattgehabter Entartung von früher höherstehenden Völkern als thatsächlich zugeben.2) Tylor wirft dem bekannten Whatelyschen Satze von der Unnachweisbarkeit eines selbständigen Emporsteigens wilder Völker zu höherer Cultur mit Recht eine gewisse Einseitigkeit vor. Er stellt ihm die Frage ent- gegen: ob es denn umgekehrt für das unabhängig und von selbst erfolgte Versinken civilisirter Völker in einen Zustand der Barbarei einen geschichtlichen Nachweis gebe? Und dafür, daß solche Fälle vorhanden seien, stellt er eine Reihe beachtenswerther Beispiele zu- sammen: die unglückliche Colonie Tomi am schwarzen Meere laut Ovids Schilderung,3) die Meuterer des Schiffes Bounty auf der 1) W. Bagehot, Physics and Politics. London 1874. -- M'Lennan, "Primitive Marriage", in seinen "Studies in ancient History", Lond. 1876. 2) Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom. London, 1871. 2 vols (deutsch durch Spengel und Poske: "Die Anfänge der Cultur" etc. Leipzig 1873; 2 Bde.). -- Einige Jahr zuvor waren erschienen seine: "Researches into the early Hist. of Mankind. London 1865, (deutsch von H. Müller u. d. Tit.: "Urgeschichte der Meuschheit" etc.). 3) Ex Ponto Ep. III, 8.
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. urzeitlicher Eheſitten und Vertheidiger der Annahme eines allmäh-ligen Hervorgehens geſitteter Eheverhältniſſe aus urſprünglicher Po- lyandrie der Weiber.1) Dieſe Alle ſind, was reichhaltige Zuſammen- ſtellung und geſchickte Entwicklung von Gründen für die Hypotheſe des „Savagismus‟ oder der Urwildheit betrifft, übertroffen worden durch Edward B. Tylor, den eigentlichen König dieſes Forſchungs- bereichs, ſoweit daſſelbe von Gelehrten engliſcher Zunge bisher an- gebaut worden. Die hieher gehörigen Schriften Tylor’s, insbeſondere ſeine 1871 erſchienenen „Anfänge der Cultur‟ müſſen als die wahren standard work’s der naturaliſtiſchen Richtung auf unſrem Gebiete gelten. Jhre Ausführungen imponiren um ſo mehr, da ſie bei Zu- rückweiſung der gegneriſchen Anſichten eine gewiſſe vorſichtige Mäßi- gung beobachten, ihre Polemik faſt mehr nur gegen die Uebertrei- bungen Whately’s als gegen das degradationiſtiſche Princip an ſich zu richten ſcheinen, und manche Fälle ſtattgehabter Entartung von früher höherſtehenden Völkern als thatſächlich zugeben.2) Tylor wirft dem bekannten Whatelyſchen Satze von der Unnachweisbarkeit eines ſelbſtändigen Emporſteigens wilder Völker zu höherer Cultur mit Recht eine gewiſſe Einſeitigkeit vor. Er ſtellt ihm die Frage ent- gegen: ob es denn umgekehrt für das unabhängig und von ſelbſt erfolgte Verſinken civiliſirter Völker in einen Zuſtand der Barbarei einen geſchichtlichen Nachweis gebe? Und dafür, daß ſolche Fälle vorhanden ſeien, ſtellt er eine Reihe beachtenswerther Beiſpiele zu- ſammen: die unglückliche Colonie Tomi am ſchwarzen Meere laut Ovids Schilderung,3) die Meuterer des Schiffes Bounty auf der 1) W. Bagehot, Physics and Politics. London 1874. — M’Lennan, „Primitive Marriage‟, in ſeinen „Studies in ancient History‟, Lond. 1876. 2) Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom. London, 1871. 2 vols (deutſch durch Spengel und Poske: „Die Anfänge der Cultur‟ ꝛc. Leipzig 1873; 2 Bde.). — Einige Jahr zuvor waren erſchienen ſeine: „Researches into the early Hist. of Mankind. London 1865, (deutſch von H. Müller u. d. Tit.: „Urgeſchichte der Meuſchheit‟ ꝛc.). 3) Ex Ponto Ep. III, 8.
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ligen Hervorgehens geſitteter Eheverhältniſſe aus urſprünglicher Po-
lyandrie der Weiber. 1) Dieſe Alle ſind, was reichhaltige Zuſammen-
ſtellung und geſchickte Entwicklung von Gründen für die Hypotheſe
des „Savagismus‟ oder der Urwildheit betrifft, übertroffen worden
durch Edward B. Tylor, den eigentlichen König dieſes Forſchungs-
bereichs, ſoweit daſſelbe von Gelehrten engliſcher Zunge bisher an-
gebaut worden. Die hieher gehörigen Schriften Tylor’s, insbeſondere
ſeine 1871 erſchienenen „Anfänge der Cultur‟ müſſen als die wahren
standard work’s der naturaliſtiſchen Richtung auf unſrem Gebiete
gelten. Jhre Ausführungen imponiren um ſo mehr, da ſie bei Zu-
rückweiſung der gegneriſchen Anſichten eine gewiſſe vorſichtige Mäßi-
gung beobachten, ihre Polemik faſt mehr nur gegen die Uebertrei-
bungen Whately’s als gegen das degradationiſtiſche Princip an ſich
zu richten ſcheinen, und manche Fälle ſtattgehabter Entartung von
früher höherſtehenden Völkern als thatſächlich zugeben. 2) Tylor wirft
dem bekannten Whatelyſchen Satze von der Unnachweisbarkeit eines
ſelbſtändigen Emporſteigens wilder Völker zu höherer Cultur mit
Recht eine gewiſſe Einſeitigkeit vor. Er ſtellt ihm die Frage ent-
gegen: ob es denn umgekehrt für das unabhängig und von ſelbſt
erfolgte Verſinken civiliſirter Völker in einen Zuſtand der Barbarei
einen geſchichtlichen Nachweis gebe? Und dafür, daß ſolche Fälle
vorhanden ſeien, ſtellt er eine Reihe beachtenswerther Beiſpiele zu-
ſammen: die unglückliche Colonie Tomi am ſchwarzen Meere laut
Ovids Schilderung, 3) die Meuterer des Schiffes Bounty auf der
1) W. Bagehot, Physics and Politics. London 1874. — M’Lennan,
„Primitive Marriage‟, in ſeinen „Studies in ancient History‟, Lond. 1876.
2) Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology,
Philosophy, Religion, Art and Custom. London, 1871. 2 vols (deutſch durch
Spengel und Poske: „Die Anfänge der Cultur‟ ꝛc. Leipzig 1873; 2 Bde.). —
Einige Jahr zuvor waren erſchienen ſeine: „Researches into the early Hist.
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der Meuſchheit‟ ꝛc.).
3) Ex Ponto Ep. III, 8.
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