VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
Die historische Sprachwissenschaft selbst aber, weiß sie etwas von einer Hervorbildung irgendwelcher Sprache aus thierisch unarti- kulirten Lauten? Empirisches und Positives jedenfalls nicht. Wo derartige Sprach-Ursprungstheorien angenommen werden, geschieht es aus Gründen nicht der Beobachtung, sondern der Speculation. Die vergleichende Wurzelforschung hat bisher noch keine Bestätigung weder der Wau-wau- noch der Päh-päh-Theorie geliefert; jeder Versuch einer Zurückführung bekannter Jdiome auf die Grundlage möglichst einfacher roher Naturlaute ist ein bloßes Postulat, dessen wissenschaftliche Realisirung Schritt für Schritt auf die unüberwind- lichsten Hindernisse stößt. Nicht einmal um die Annahme, daß von den bekannten drei Hauptgruppen menschlicher Sprachen überhaupt, den einsilbigen, agglutinirenden und flectirenden, die erstgenannte sich zuerst entwickelt hätte und daß als deren nächstes Entwicklungs- product dann die Agglutinationssprachen zu gelten hätten, die Flexionssprachen aber das letzte und höchste Endziel des ganzen Bildungsprocesses bezeichneten, -- nicht einmal um diese Annahme ist es sonderlich glänzend bestellt, was bestätigende Thatsachen betrifft. Es wäre so bequem, so willkommen für's evolutionistische Jnteresse, könnte man die angeführte Reihe als eine Parallele zur Stufenfolge etwa der drei Hauptgruppen des Gewächsreiches, der Kryptogamen, Mono- und Dicotyledonen ansehen und ein Hervorgegangensein der beiden höheren und complicirter gebildeten Sprachgruppen aus ursprünglicher allgemeiner Asynthesie oder Einsilbigkeit behaupten. Aber an concreten Belegen hiefür mangelt es sehr. Sowohl die asynthetisch-einsilbigen, als die polysynthetischen oder agglutinirenden Sprachen -- jene von im Ganzen ungefähr 400 oder 500 Millionen, diese von etwa 100 Millionen Menschen gesprochen -- gleichen in vieler Hinsicht eher Zertrümmerungs- oder Verwesungsproducten, als jugendfrisch emporstrebenden Originaltypen; man vergleiche nur eine faktisch beinahe einsilbig klingende und flexionslose Sprache wie Englisch mit den ihm zu Grunde liegenden Jdiomen der alten Ger- manen einerseits und der alten Römer andrerseits! Daß speciell der
VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
Die hiſtoriſche Sprachwiſſenſchaft ſelbſt aber, weiß ſie etwas von einer Hervorbildung irgendwelcher Sprache aus thieriſch unarti- kulirten Lauten? Empiriſches und Poſitives jedenfalls nicht. Wo derartige Sprach-Urſprungstheorien angenommen werden, geſchieht es aus Gründen nicht der Beobachtung, ſondern der Speculation. Die vergleichende Wurzelforſchung hat bisher noch keine Beſtätigung weder der Wau-wau- noch der Päh-päh-Theorie geliefert; jeder Verſuch einer Zurückführung bekannter Jdiome auf die Grundlage möglichſt einfacher roher Naturlaute iſt ein bloßes Poſtulat, deſſen wiſſenſchaftliche Realiſirung Schritt für Schritt auf die unüberwind- lichſten Hinderniſſe ſtößt. Nicht einmal um die Annahme, daß von den bekannten drei Hauptgruppen menſchlicher Sprachen überhaupt, den einſilbigen, agglutinirenden und flectirenden, die erſtgenannte ſich zuerſt entwickelt hätte und daß als deren nächſtes Entwicklungs- product dann die Agglutinationsſprachen zu gelten hätten, die Flexionsſprachen aber das letzte und höchſte Endziel des ganzen Bildungsproceſſes bezeichneten, — nicht einmal um dieſe Annahme iſt es ſonderlich glänzend beſtellt, was beſtätigende Thatſachen betrifft. Es wäre ſo bequem, ſo willkommen für’s evolutioniſtiſche Jntereſſe, könnte man die angeführte Reihe als eine Parallele zur Stufenfolge etwa der drei Hauptgruppen des Gewächsreiches, der Kryptogamen, Mono- und Dicotyledonen anſehen und ein Hervorgegangenſein der beiden höheren und complicirter gebildeten Sprachgruppen aus urſprünglicher allgemeiner Aſyntheſie oder Einſilbigkeit behaupten. Aber an concreten Belegen hiefür mangelt es ſehr. Sowohl die aſynthetiſch-einſilbigen, als die polyſynthetiſchen oder agglutinirenden Sprachen — jene von im Ganzen ungefähr 400 oder 500 Millionen, dieſe von etwa 100 Millionen Menſchen geſprochen — gleichen in vieler Hinſicht eher Zertrümmerungs- oder Verweſungsproducten, als jugendfriſch emporſtrebenden Originaltypen; man vergleiche nur eine faktiſch beinahe einſilbig klingende und flexionsloſe Sprache wie Engliſch mit den ihm zu Grunde liegenden Jdiomen der alten Ger- manen einerſeits und der alten Römer andrerſeits! Daß ſpeciell der
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VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
Die hiſtoriſche Sprachwiſſenſchaft ſelbſt aber, weiß ſie etwas
von einer Hervorbildung irgendwelcher Sprache aus thieriſch unarti-
kulirten Lauten? Empiriſches und Poſitives jedenfalls nicht. Wo
derartige Sprach-Urſprungstheorien angenommen werden, geſchieht
es aus Gründen nicht der Beobachtung, ſondern der Speculation.
Die vergleichende Wurzelforſchung hat bisher noch keine Beſtätigung
weder der Wau-wau- noch der Päh-päh-Theorie geliefert; jeder
Verſuch einer Zurückführung bekannter Jdiome auf die Grundlage
möglichſt einfacher roher Naturlaute iſt ein bloßes Poſtulat, deſſen
wiſſenſchaftliche Realiſirung Schritt für Schritt auf die unüberwind-
lichſten Hinderniſſe ſtößt. Nicht einmal um die Annahme, daß von
den bekannten drei Hauptgruppen menſchlicher Sprachen überhaupt,
den einſilbigen, agglutinirenden und flectirenden, die erſtgenannte
ſich zuerſt entwickelt hätte und daß als deren nächſtes Entwicklungs-
product dann die Agglutinationsſprachen zu gelten hätten, die
Flexionsſprachen aber das letzte und höchſte Endziel des ganzen
Bildungsproceſſes bezeichneten, — nicht einmal um dieſe Annahme
iſt es ſonderlich glänzend beſtellt, was beſtätigende Thatſachen betrifft.
Es wäre ſo bequem, ſo willkommen für’s evolutioniſtiſche Jntereſſe,
könnte man die angeführte Reihe als eine Parallele zur Stufenfolge
etwa der drei Hauptgruppen des Gewächsreiches, der Kryptogamen,
Mono- und Dicotyledonen anſehen und ein Hervorgegangenſein der
beiden höheren und complicirter gebildeten Sprachgruppen aus
urſprünglicher allgemeiner Aſyntheſie oder Einſilbigkeit behaupten.
Aber an concreten Belegen hiefür mangelt es ſehr. Sowohl die
aſynthetiſch-einſilbigen, als die polyſynthetiſchen oder agglutinirenden
Sprachen — jene von im Ganzen ungefähr 400 oder 500 Millionen,
dieſe von etwa 100 Millionen Menſchen geſprochen — gleichen in
vieler Hinſicht eher Zertrümmerungs- oder Verweſungsproducten,
als jugendfriſch emporſtrebenden Originaltypen; man vergleiche nur
eine faktiſch beinahe einſilbig klingende und flexionsloſe Sprache wie
Engliſch mit den ihm zu Grunde liegenden Jdiomen der alten Ger-
manen einerſeits und der alten Römer andrerſeits! Daß ſpeciell der
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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/194>, abgerufen am 21.11.2024.
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