Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen. allgemeinen Urzustand? Gestatten die vereinzelt in jeder größernStadt vorkommenden Jndividuen von gänzlich verthiertem, jeder beßeren Gewissensregung und religiösen Empfindung baarem Charakter irgendwelchen Rückschluß auf ihre Vorfahren? Und wird es mit ganzen Völkern von ähnlichen Eigenschaften sich anders verhalten? Könnte das erratische Vorkommen atheistischer Stämme -- und nur ein solches würde günstigsten Falles constatirt werden können1) -- irgend etwas für den Atheismus als einst durchgängig vorhanden gewesene Anfangsstufe menschlicher Cultur- und Religionsentwicklung beweisen? -- Es steht in jeder Hinsicht sehr kümmerlich um diese auf die angebliche Religionslosigkeit heutiger Wilder sich stützende Ar- gumentation, -- fast so kümmerlich wie um Sir John Lubbocks Schlußfolgerung, wonach aus dem Umstande, daß die Sprachen einiger nordamerikanischen Amerikaner, wie der Alonquins und der Tinnes, kein besonderes Wort für die Begriffe "Liebe, geliebt" etc. enthalten, ein ursprüngliches Fehlen aller Erweisungen von Gatten- und Kindesliebe bei den Vorfahren dieser Stämme, oder gar über- haupt bei den Urwilden, sich ergeben soll!2) Viele entschieden naturalistisch gerichtete Culturforscher, darunter auch mehrere erklärte Anhänger des Darwinismus, verzichten daher ganz oder fast ganz auf jenes Argument. Tylor leugnet mit aller Bestimmtheit, daß Völker, ohne jenes Minimum von Religiosität, welches nach ihm "Animismus" (Glaube an geistige Wesen) zu nennen ist, schon irgendwo nachgewiesen worden seinen; die theologische Wissenschaft zwinge zu dem Zugeständniß, "daß der Glaube an geistige Wesen bei allen niederen Racen sich findet, mit denen wir genau genug bekannt geworden sind, während die Behauptung, daß ein solcher Glaube nicht vorhanden sei, auf alte oder mehr oder minder un- vollständig beschriebne moderne Stämme sich beschränke"; so wenig die Erzählungen von Volksstämmen, welche weder die Sprache, noch den Gebrauch des Feuers kennen sollen, die Probe der Kritik be- 1) Vgl. A. de Quatrefages, Das Menschengeschlecht, II, Buch X, S. 227. 2) Lubbock, Orig. of Civilis., p. 58 s. -- Vgl. schon oben.
VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. allgemeinen Urzuſtand? Geſtatten die vereinzelt in jeder größernStadt vorkommenden Jndividuen von gänzlich verthiertem, jeder beßeren Gewiſſensregung und religiöſen Empfindung baarem Charakter irgendwelchen Rückſchluß auf ihre Vorfahren? Und wird es mit ganzen Völkern von ähnlichen Eigenſchaften ſich anders verhalten? Könnte das erratiſche Vorkommen atheiſtiſcher Stämme — und nur ein ſolches würde günſtigſten Falles conſtatirt werden können1) — irgend etwas für den Atheismus als einſt durchgängig vorhanden geweſene Anfangsſtufe menſchlicher Cultur- und Religionsentwicklung beweiſen? — Es ſteht in jeder Hinſicht ſehr kümmerlich um dieſe auf die angebliche Religionsloſigkeit heutiger Wilder ſich ſtützende Ar- gumentation, — faſt ſo kümmerlich wie um Sir John Lubbocks Schlußfolgerung, wonach aus dem Umſtande, daß die Sprachen einiger nordamerikaniſchen Amerikaner, wie der Alonquins und der Tinnés, kein beſonderes Wort für die Begriffe „Liebe, geliebt‟ ꝛc. enthalten, ein urſprüngliches Fehlen aller Erweiſungen von Gatten- und Kindesliebe bei den Vorfahren dieſer Stämme, oder gar über- haupt bei den Urwilden, ſich ergeben ſoll!2) Viele entſchieden naturaliſtiſch gerichtete Culturforſcher, darunter auch mehrere erklärte Anhänger des Darwinismus, verzichten daher ganz oder faſt ganz auf jenes Argument. Tylor leugnet mit aller Beſtimmtheit, daß Völker, ohne jenes Minimum von Religioſität, welches nach ihm „Animismus‟ (Glaube an geiſtige Weſen) zu nennen iſt, ſchon irgendwo nachgewieſen worden ſeinen; die theologiſche Wiſſenſchaft zwinge zu dem Zugeſtändniß, „daß der Glaube an geiſtige Weſen bei allen niederen Racen ſich findet, mit denen wir genau genug bekannt geworden ſind, während die Behauptung, daß ein ſolcher Glaube nicht vorhanden ſei, auf alte oder mehr oder minder un- vollſtändig beſchriebne moderne Stämme ſich beſchränke‟; ſo wenig die Erzählungen von Volksſtämmen, welche weder die Sprache, noch den Gebrauch des Feuers kennen ſollen, die Probe der Kritik be- 1) Vgl. A. de Quatrefages, Das Menſchengeſchlecht, II, Buch X, S. 227. 2) Lubbock, Orig. of Civilis., p. 58 s. — Vgl. ſchon oben.
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VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
allgemeinen Urzuſtand? Geſtatten die vereinzelt in jeder größern
Stadt vorkommenden Jndividuen von gänzlich verthiertem, jeder
beßeren Gewiſſensregung und religiöſen Empfindung baarem Charakter
irgendwelchen Rückſchluß auf ihre Vorfahren? Und wird es mit
ganzen Völkern von ähnlichen Eigenſchaften ſich anders verhalten?
Könnte das erratiſche Vorkommen atheiſtiſcher Stämme — und
nur ein ſolches würde günſtigſten Falles conſtatirt werden können 1) —
irgend etwas für den Atheismus als einſt durchgängig vorhanden
geweſene Anfangsſtufe menſchlicher Cultur- und Religionsentwicklung
beweiſen? — Es ſteht in jeder Hinſicht ſehr kümmerlich um dieſe
auf die angebliche Religionsloſigkeit heutiger Wilder ſich ſtützende Ar-
gumentation, — faſt ſo kümmerlich wie um Sir John Lubbocks
Schlußfolgerung, wonach aus dem Umſtande, daß die Sprachen
einiger nordamerikaniſchen Amerikaner, wie der Alonquins und der
Tinnés, kein beſonderes Wort für die Begriffe „Liebe, geliebt‟ ꝛc.
enthalten, ein urſprüngliches Fehlen aller Erweiſungen von Gatten-
und Kindesliebe bei den Vorfahren dieſer Stämme, oder gar über-
haupt bei den Urwilden, ſich ergeben ſoll! 2) Viele entſchieden
naturaliſtiſch gerichtete Culturforſcher, darunter auch mehrere erklärte
Anhänger des Darwinismus, verzichten daher ganz oder faſt ganz
auf jenes Argument. Tylor leugnet mit aller Beſtimmtheit, daß
Völker, ohne jenes Minimum von Religioſität, welches nach ihm
„Animismus‟ (Glaube an geiſtige Weſen) zu nennen iſt, ſchon
irgendwo nachgewieſen worden ſeinen; die theologiſche Wiſſenſchaft
zwinge zu dem Zugeſtändniß, „daß der Glaube an geiſtige Weſen
bei allen niederen Racen ſich findet, mit denen wir genau genug
bekannt geworden ſind, während die Behauptung, daß ein ſolcher
Glaube nicht vorhanden ſei, auf alte oder mehr oder minder un-
vollſtändig beſchriebne moderne Stämme ſich beſchränke‟; ſo wenig
die Erzählungen von Volksſtämmen, welche weder die Sprache, noch
den Gebrauch des Feuers kennen ſollen, die Probe der Kritik be-
1) Vgl. A. de Quatrefages, Das Menſchengeſchlecht, II, Buch X, S. 227.
2) Lubbock, Orig. of Civilis., p. 58 s. — Vgl. ſchon oben.
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