Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
Völkern Amerikas vorkommende) Unsitte der künstlichen Schädel-
umformung etc. ähnlich zu urtheilen ist, mag zweifelhaft sein: für
die Annahme, daß selbst diesen seltsamen Sitten, wenigstens der
letztgenannten, irgend ein uraltes religiöses Vorurtheil zu Grunde
liege, scheinen immerhin einige Anhaltspunkte vorzuliegen.1) Ganz
sicher aber gehört hierher die höchst merkwürdige Sitte der Cou-
vade
oder des Mannes-Kindbetts, ausgeübt von Familien-
vätern nicht bloß der südfranzösischen Provinz Bearn (von woher
der Name: faire la couvade), von baskischen Pyrenäenbewohnern
und Corsikanern, sondern auch von Grönländern, Kamtschadalen,
Chinesen der Provinzen West-Yünnan und Kuei-tschau, von Dayacken
auf Borneo, von Abiponern, Coroados, Karaiben und andern süd-
amerikanischen Stämmen, von Negerstämmen am Congo und in
Cassange, u. s. f. Ueberall unter den hier genannten Völkern wird
oder wurde im Falle stattgehabter Vermehrung der Familie nicht
die eben entbundene Mutter, sondern der Vater in ein 4- bis
6wöchentliches Kindbett gelegt, zu Fasten und Enthaltung von ge-
wissen Speisen verurtheilt, überhaupt als krank behandelt. Können
die albernen Erklärungen, welche einzelne wilde Stämme in Bezug
auf diesen seltsamen Brauch geben, z. B. die der Abiponer, welche
vom Fleischessen des Vaters während der betr. Wochen ein Ueber-
gehen der Fehler oder Laster der von ihm gegessenen Thiere auf
das Kind befürchteten, können derartige unsäglich läppische Deutungen
das Richtige treffen?2) Oder sollte gar Max Müllers Annahme,
daß das Ganze in schwiegermütterlicher Chikane, in tyrannischer

1) J. v. Lenhossek, Die künstlichen Schädelverbildungen etc., Budapest
1878. -- Archiv f. Anthropol. Bd. XI, 1879, S. 363 f.
2) Lubbock, Origin etc. p. 15 billigt die durch Debritzhofer, Lasitau etc.
überlieferte Erklärungsweise der Abiponer, wonach Fleischessen des Vaters "feroit
mal a l'enfant, et que cet enfant participeroit a tous les defauts na-
turels des animaux dont le pere auroit mange!"
Als ob ein derartiger
notorischer Lokal-Aberglaube für die fast unzähligen Fälle sonstigen Vorkommens
der Sitte maaßgebend genannt werden könnte!

VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
Völkern Amerikas vorkommende) Unſitte der künſtlichen Schädel-
umformung ꝛc. ähnlich zu urtheilen iſt, mag zweifelhaft ſein: für
die Annahme, daß ſelbſt dieſen ſeltſamen Sitten, wenigſtens der
letztgenannten, irgend ein uraltes religiöſes Vorurtheil zu Grunde
liege, ſcheinen immerhin einige Anhaltspunkte vorzuliegen.1) Ganz
ſicher aber gehört hierher die höchſt merkwürdige Sitte der Cou-
vade
oder des Mannes-Kindbetts, ausgeübt von Familien-
vätern nicht bloß der ſüdfranzöſiſchen Provinz Béarn (von woher
der Name: faire la couvade), von baskiſchen Pyrenäenbewohnern
und Corſikanern, ſondern auch von Grönländern, Kamtſchadalen,
Chineſen der Provinzen Weſt-Yünnan und Kuei-tſchau, von Dayacken
auf Borneo, von Abiponern, Coroados, Karaiben und andern ſüd-
amerikaniſchen Stämmen, von Negerſtämmen am Congo und in
Caſſange, u. ſ. f. Ueberall unter den hier genannten Völkern wird
oder wurde im Falle ſtattgehabter Vermehrung der Familie nicht
die eben entbundene Mutter, ſondern der Vater in ein 4- bis
6wöchentliches Kindbett gelegt, zu Faſten und Enthaltung von ge-
wiſſen Speiſen verurtheilt, überhaupt als krank behandelt. Können
die albernen Erklärungen, welche einzelne wilde Stämme in Bezug
auf dieſen ſeltſamen Brauch geben, z. B. die der Abiponer, welche
vom Fleiſcheſſen des Vaters während der betr. Wochen ein Ueber-
gehen der Fehler oder Laſter der von ihm gegeſſenen Thiere auf
das Kind befürchteten, können derartige unſäglich läppiſche Deutungen
das Richtige treffen?2) Oder ſollte gar Max Müllers Annahme,
daß das Ganze in ſchwiegermütterlicher Chikane, in tyranniſcher

1) J. v. Lenhoſſek, Die künſtlichen Schädelverbildungen ꝛc., Budapeſt
1878. — Archiv f. Anthropol. Bd. XI, 1879, S. 363 f.
2) Lubbock, Origin etc. p. 15 billigt die durch Debritzhofer, Laſitau ꝛc.
überlieferte Erklärungsweiſe der Abiponer, wonach Fleiſcheſſen des Vaters „feroit
mal à l’enfant, et que cet enfant participeroit à tous les défauts na-
turels des animaux dont le père auroit mangé!‟
Als ob ein derartiger
notoriſcher Lokal-Aberglaube für die faſt unzähligen Fälle ſonſtigen Vorkommens
der Sitte maaßgebend genannt werden könnte!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0216" n="206"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Sprach-, religions- und culturge&#x017F;chichtliche Jn&#x017F;tanzen.</fw><lb/>
Völkern Amerikas vorkommende) Un&#x017F;itte der kün&#x017F;tlichen Schädel-<lb/>
umformung &#xA75B;c. ähnlich zu urtheilen i&#x017F;t, mag zweifelhaft &#x017F;ein: für<lb/>
die Annahme, daß &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;en &#x017F;elt&#x017F;amen Sitten, wenig&#x017F;tens der<lb/>
letztgenannten, irgend ein uraltes religiö&#x017F;es Vorurtheil zu Grunde<lb/>
liege, &#x017F;cheinen immerhin einige Anhaltspunkte vorzuliegen.<note place="foot" n="1)">J. v. <hi rendition="#g">Lenho&#x017F;&#x017F;ek,</hi> Die kün&#x017F;tlichen Schädelverbildungen &#xA75B;c., Budape&#x017F;t<lb/>
1878. &#x2014; Archiv f. Anthropol. Bd. <hi rendition="#aq">XI,</hi> 1879, S. 363 f.</note> Ganz<lb/>
&#x017F;icher aber gehört hierher die höch&#x017F;t merkwürdige Sitte der <hi rendition="#g">Cou-<lb/>
vade</hi> oder des <hi rendition="#g">Mannes-Kindbetts,</hi> ausgeübt von Familien-<lb/>
vätern nicht bloß der &#x017F;üdfranzö&#x017F;i&#x017F;chen Provinz B<hi rendition="#aq">é</hi>arn (von woher<lb/>
der Name: <hi rendition="#aq">faire la couvade</hi>), von baski&#x017F;chen Pyrenäenbewohnern<lb/>
und Cor&#x017F;ikanern, &#x017F;ondern auch von Grönländern, Kamt&#x017F;chadalen,<lb/>
Chine&#x017F;en der Provinzen We&#x017F;t-Yünnan und Kuei-t&#x017F;chau, von Dayacken<lb/>
auf Borneo, von Abiponern, Coroados, Karaiben und andern &#x017F;üd-<lb/>
amerikani&#x017F;chen Stämmen, von Neger&#x017F;tämmen am Congo und in<lb/>
Ca&#x017F;&#x017F;ange, u. &#x017F;. f. Ueberall unter den hier genannten Völkern wird<lb/>
oder wurde im Falle &#x017F;tattgehabter Vermehrung der Familie nicht<lb/>
die eben entbundene Mutter, &#x017F;ondern der Vater in ein 4- bis<lb/>
6wöchentliches Kindbett gelegt, zu Fa&#x017F;ten und Enthaltung von ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Spei&#x017F;en verurtheilt, überhaupt als krank behandelt. Können<lb/>
die albernen Erklärungen, welche einzelne wilde Stämme in Bezug<lb/>
auf die&#x017F;en &#x017F;elt&#x017F;amen Brauch geben, z. B. die der Abiponer, welche<lb/>
vom Flei&#x017F;che&#x017F;&#x017F;en des Vaters während der betr. Wochen ein Ueber-<lb/>
gehen der Fehler oder La&#x017F;ter der von ihm gege&#x017F;&#x017F;enen Thiere auf<lb/>
das Kind befürchteten, können derartige un&#x017F;äglich läppi&#x017F;che Deutungen<lb/>
das Richtige treffen?<note place="foot" n="2)"><hi rendition="#g">Lubbock,</hi><hi rendition="#aq">Origin etc. p.</hi> 15 billigt die durch Debritzhofer, La&#x017F;itau &#xA75B;c.<lb/>
überlieferte Erklärungswei&#x017F;e der Abiponer, wonach Flei&#x017F;che&#x017F;&#x017F;en des Vaters <hi rendition="#aq">&#x201E;feroit<lb/>
mal à l&#x2019;enfant, et que cet enfant participeroit à tous les défauts na-<lb/>
turels des animaux dont le père auroit mangé!&#x201F;</hi> Als ob ein derartiger<lb/>
notori&#x017F;cher Lokal-Aberglaube für die fa&#x017F;t unzähligen Fälle &#x017F;on&#x017F;tigen Vorkommens<lb/>
der Sitte maaßgebend genannt werden könnte!</note> Oder &#x017F;ollte gar Max Müllers Annahme,<lb/>
daß das Ganze in &#x017F;chwiegermütterlicher Chikane, in tyranni&#x017F;cher<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0216] VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. Völkern Amerikas vorkommende) Unſitte der künſtlichen Schädel- umformung ꝛc. ähnlich zu urtheilen iſt, mag zweifelhaft ſein: für die Annahme, daß ſelbſt dieſen ſeltſamen Sitten, wenigſtens der letztgenannten, irgend ein uraltes religiöſes Vorurtheil zu Grunde liege, ſcheinen immerhin einige Anhaltspunkte vorzuliegen. 1) Ganz ſicher aber gehört hierher die höchſt merkwürdige Sitte der Cou- vade oder des Mannes-Kindbetts, ausgeübt von Familien- vätern nicht bloß der ſüdfranzöſiſchen Provinz Béarn (von woher der Name: faire la couvade), von baskiſchen Pyrenäenbewohnern und Corſikanern, ſondern auch von Grönländern, Kamtſchadalen, Chineſen der Provinzen Weſt-Yünnan und Kuei-tſchau, von Dayacken auf Borneo, von Abiponern, Coroados, Karaiben und andern ſüd- amerikaniſchen Stämmen, von Negerſtämmen am Congo und in Caſſange, u. ſ. f. Ueberall unter den hier genannten Völkern wird oder wurde im Falle ſtattgehabter Vermehrung der Familie nicht die eben entbundene Mutter, ſondern der Vater in ein 4- bis 6wöchentliches Kindbett gelegt, zu Faſten und Enthaltung von ge- wiſſen Speiſen verurtheilt, überhaupt als krank behandelt. Können die albernen Erklärungen, welche einzelne wilde Stämme in Bezug auf dieſen ſeltſamen Brauch geben, z. B. die der Abiponer, welche vom Fleiſcheſſen des Vaters während der betr. Wochen ein Ueber- gehen der Fehler oder Laſter der von ihm gegeſſenen Thiere auf das Kind befürchteten, können derartige unſäglich läppiſche Deutungen das Richtige treffen? 2) Oder ſollte gar Max Müllers Annahme, daß das Ganze in ſchwiegermütterlicher Chikane, in tyranniſcher 1) J. v. Lenhoſſek, Die künſtlichen Schädelverbildungen ꝛc., Budapeſt 1878. — Archiv f. Anthropol. Bd. XI, 1879, S. 363 f. 2) Lubbock, Origin etc. p. 15 billigt die durch Debritzhofer, Laſitau ꝛc. überlieferte Erklärungsweiſe der Abiponer, wonach Fleiſcheſſen des Vaters „feroit mal à l’enfant, et que cet enfant participeroit à tous les défauts na- turels des animaux dont le père auroit mangé!‟ Als ob ein derartiger notoriſcher Lokal-Aberglaube für die faſt unzähligen Fälle ſonſtigen Vorkommens der Sitte maaßgebend genannt werden könnte!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/216
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/216>, abgerufen am 24.11.2024.