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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Ehre des hl. Thomas gegenüber jenen Versuchen, den kühnen Jdea-
lismus seiner Urstandslehre zu verkleinern und abzuschwächen, auf
das Nachdrücklichste gewahrt. Nur in Bezug auf Zukünftiges und
auf Vergangenes, jenseits der irdischen Paradiesesgeschichte Gelegenes
wird eine Beschränktheit der Erkenntniß Adams zugestanden; des-
gleichen in Bezug auf die Herzensgedanken andrer Menschen. Aber
gegenüber Cajetan wird mit aller Bestimmtheit eine genaue Kenntniß
des Menschheitsstammvaters auch vom Himmel und seinen Gestirnen,
von den Tiefen des Meeres, von den Mineralien im Schooße der
Erde gelehrt; die Frage, ob derselbe in solchen und anderen irdischen
Dingen auch zu irren vermocht habe, wird ausführlich erörtert und
verneint! Und gegenüber Tostatus' Bevorzugung der Salomonischen
vor der Adamischen Weisheit wird kühnlich behauptet: Nein, Adams
Weisheit in natürlichen Dingen war größer und vollkommner als
diejenige Salomo's; denn sie eignete ja ihm als dem Haupt und
Meister der ganzen späteren Menschheit, auch war sie für ihn,
besonders was die natürlichen Dinge betrifft, nothwendiger und
unentbehrlicher als für Jenen.1)

Leider hat auch die reformatorische Theologie sich der-
artiger Ungeheuerlichkeiten nicht ganz enthalten. Für sie kam jene
Annahme einer übernatürlichen gratia superaddita des Urstands
allerdings in Wegfall; deßgleichen die schriftwidrig künstelnde Di-
stinction zwischen Bild und Aehnlichkeit Gottes, welche nur einige
wenige Theologen des Calvinismus (Petrus Martyr, Ursinus,
Zanchius, Junius) als gegründet zu halten suchten2). Aber im
Punkte der Wissenschaft Adams von natürlichen und übernatürlichen
Dingen sowie der leiblichen Vorzüge der Stammeltern vor dem
Falle bleiben die Väter und Begründer der evangelischen Kirche
ganz und gar unter dem Banne der älteren dogmatischen Tradition.
Luther malt nicht bloß in seinen Tischreden die Herrlichkeiten des
Paradieses und seiner Bewohner mit naiv dichtender Phantasie auf

1) Suarez, l. l. Vgl. l. V, p. 248--291.
2) Siehe m. Gesch der Beziehungen etc., I, S. 626 u. 698.
2*

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Ehre des hl. Thomas gegenüber jenen Verſuchen, den kühnen Jdea-
lismus ſeiner Urſtandslehre zu verkleinern und abzuſchwächen, auf
das Nachdrücklichſte gewahrt. Nur in Bezug auf Zukünftiges und
auf Vergangenes, jenſeits der irdiſchen Paradieſesgeſchichte Gelegenes
wird eine Beſchränktheit der Erkenntniß Adams zugeſtanden; des-
gleichen in Bezug auf die Herzensgedanken andrer Menſchen. Aber
gegenüber Cajetan wird mit aller Beſtimmtheit eine genaue Kenntniß
des Menſchheitsſtammvaters auch vom Himmel und ſeinen Geſtirnen,
von den Tiefen des Meeres, von den Mineralien im Schooße der
Erde gelehrt; die Frage, ob derſelbe in ſolchen und anderen irdiſchen
Dingen auch zu irren vermocht habe, wird ausführlich erörtert und
verneint! Und gegenüber Toſtatus’ Bevorzugung der Salomoniſchen
vor der Adamiſchen Weisheit wird kühnlich behauptet: Nein, Adams
Weisheit in natürlichen Dingen war größer und vollkommner als
diejenige Salomo’s; denn ſie eignete ja ihm als dem Haupt und
Meiſter der ganzen ſpäteren Menſchheit, auch war ſie für ihn,
beſonders was die natürlichen Dinge betrifft, nothwendiger und
unentbehrlicher als für Jenen.1)

Leider hat auch die reformatoriſche Theologie ſich der-
artiger Ungeheuerlichkeiten nicht ganz enthalten. Für ſie kam jene
Annahme einer übernatürlichen gratia superaddita des Urſtands
allerdings in Wegfall; deßgleichen die ſchriftwidrig künſtelnde Di-
ſtinction zwiſchen Bild und Aehnlichkeit Gottes, welche nur einige
wenige Theologen des Calvinismus (Petrus Martyr, Urſinus,
Zanchius, Junius) als gegründet zu halten ſuchten2). Aber im
Punkte der Wiſſenſchaft Adams von natürlichen und übernatürlichen
Dingen ſowie der leiblichen Vorzüge der Stammeltern vor dem
Falle bleiben die Väter und Begründer der evangeliſchen Kirche
ganz und gar unter dem Banne der älteren dogmatiſchen Tradition.
Luther malt nicht bloß in ſeinen Tiſchreden die Herrlichkeiten des
Paradieſes und ſeiner Bewohner mit naiv dichtender Phantaſie auf

1) Suarez, l. l. Vgl. l. V, p. 248—291.
2) Siehe m. Geſch der Beziehungen ꝛc., I, S. 626 u. 698.
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[19/0029] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. Ehre des hl. Thomas gegenüber jenen Verſuchen, den kühnen Jdea- lismus ſeiner Urſtandslehre zu verkleinern und abzuſchwächen, auf das Nachdrücklichſte gewahrt. Nur in Bezug auf Zukünftiges und auf Vergangenes, jenſeits der irdiſchen Paradieſesgeſchichte Gelegenes wird eine Beſchränktheit der Erkenntniß Adams zugeſtanden; des- gleichen in Bezug auf die Herzensgedanken andrer Menſchen. Aber gegenüber Cajetan wird mit aller Beſtimmtheit eine genaue Kenntniß des Menſchheitsſtammvaters auch vom Himmel und ſeinen Geſtirnen, von den Tiefen des Meeres, von den Mineralien im Schooße der Erde gelehrt; die Frage, ob derſelbe in ſolchen und anderen irdiſchen Dingen auch zu irren vermocht habe, wird ausführlich erörtert und verneint! Und gegenüber Toſtatus’ Bevorzugung der Salomoniſchen vor der Adamiſchen Weisheit wird kühnlich behauptet: Nein, Adams Weisheit in natürlichen Dingen war größer und vollkommner als diejenige Salomo’s; denn ſie eignete ja ihm als dem Haupt und Meiſter der ganzen ſpäteren Menſchheit, auch war ſie für ihn, beſonders was die natürlichen Dinge betrifft, nothwendiger und unentbehrlicher als für Jenen. 1) Leider hat auch die reformatoriſche Theologie ſich der- artiger Ungeheuerlichkeiten nicht ganz enthalten. Für ſie kam jene Annahme einer übernatürlichen gratia superaddita des Urſtands allerdings in Wegfall; deßgleichen die ſchriftwidrig künſtelnde Di- ſtinction zwiſchen Bild und Aehnlichkeit Gottes, welche nur einige wenige Theologen des Calvinismus (Petrus Martyr, Urſinus, Zanchius, Junius) als gegründet zu halten ſuchten 2). Aber im Punkte der Wiſſenſchaft Adams von natürlichen und übernatürlichen Dingen ſowie der leiblichen Vorzüge der Stammeltern vor dem Falle bleiben die Väter und Begründer der evangeliſchen Kirche ganz und gar unter dem Banne der älteren dogmatiſchen Tradition. Luther malt nicht bloß in ſeinen Tiſchreden die Herrlichkeiten des Paradieſes und ſeiner Bewohner mit naiv dichtender Phantaſie auf 1) Suarez, l. l. Vgl. l. V, p. 248—291. 2) Siehe m. Geſch der Beziehungen ꝛc., I, S. 626 u. 698. 2*

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/29>, abgerufen am 09.11.2024.