Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Prüfung darüber.
freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich
etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin
reißen lassen, und dadurch selbst das Gute,
was ich vielleicht that und redete, unwirksam,
oder gar schädlich gemacht?

Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich
weinen, oder sich meinetwegen bekümmern
sollte! -- Gott, wie dürfen wir dich Vater
nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn
wir einander betrüben, und uns das Leben
wechselsweise erschweren und verdittern! Wie
könntest du da mit Wohlgefallen auf uns her-
absehen und deine Lust an uns haben! Ach,
könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer-
ten Bruder sogleich an mein Herz drücken, ihm
seinen Kummer benehmen, seine Thränen ab-
wischen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja,
wenn mich mein Gewissen dieses Fehlers be-
schuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht
des morgenden Tages erblicken, so will ich
dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann.
Ich will mich nicht schämen, meinen Fehler zu
gestehen und ihn auf alle Weise zu vergüten,
wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter-
gebenen, gegen mein Gesinde, gegen eine Per-
son von niedrigem Stande begangen hätte!

Denn
Erster Theil. N

Prüfung darüber.
freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich
etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin
reißen laſſen, und dadurch ſelbſt das Gute,
was ich vielleicht that und redete, unwirkſam,
oder gar ſchädlich gemacht?

Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich
weinen, oder ſich meinetwegen bekümmern
ſollte! — Gott, wie dürfen wir dich Vater
nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn
wir einander betrüben, und uns das Leben
wechſelsweiſe erſchweren und verdittern! Wie
könnteſt du da mit Wohlgefallen auf uns her-
abſehen und deine Luſt an uns haben! Ach,
könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer-
ten Bruder ſogleich an mein Herz drücken, ihm
ſeinen Kummer benehmen, ſeine Thränen ab-
wiſchen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja,
wenn mich mein Gewiſſen dieſes Fehlers be-
ſchuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht
des morgenden Tages erblicken, ſo will ich
dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann.
Ich will mich nicht ſchämen, meinen Fehler zu
geſtehen und ihn auf alle Weiſe zu vergüten,
wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter-
gebenen, gegen mein Geſinde, gegen eine Per-
ſon von niedrigem Stande begangen hätte!

Denn
Erſter Theil. N
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0215" n="193"/><fw place="top" type="header">Prüfung darüber.</fw><lb/>
freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich<lb/>
etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin<lb/>
reißen la&#x017F;&#x017F;en, und dadurch &#x017F;elb&#x017F;t das Gute,<lb/>
was ich vielleicht that und redete, unwirk&#x017F;am,<lb/>
oder gar &#x017F;chädlich gemacht?</p><lb/>
              <p>Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich<lb/>
weinen, oder &#x017F;ich meinetwegen bekümmern<lb/>
&#x017F;ollte! &#x2014; Gott, wie dürfen wir dich Vater<lb/>
nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn<lb/>
wir einander betrüben, und uns das Leben<lb/>
wech&#x017F;elswei&#x017F;e er&#x017F;chweren und verdittern! Wie<lb/>
könnte&#x017F;t du da mit Wohlgefallen auf uns her-<lb/>
ab&#x017F;ehen und deine Lu&#x017F;t an uns haben! Ach,<lb/>
könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer-<lb/>
ten Bruder &#x017F;ogleich an mein Herz drücken, ihm<lb/>
&#x017F;einen Kummer benehmen, &#x017F;eine Thränen ab-<lb/>
wi&#x017F;chen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja,<lb/>
wenn mich mein Gewi&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;es Fehlers be-<lb/>
&#x017F;chuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht<lb/>
des morgenden Tages erblicken, &#x017F;o will ich<lb/>
dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann.<lb/>
Ich will mich nicht &#x017F;chämen, meinen Fehler zu<lb/>
ge&#x017F;tehen und ihn auf alle Wei&#x017F;e zu vergüten,<lb/>
wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter-<lb/>
gebenen, gegen mein Ge&#x017F;inde, gegen eine Per-<lb/>
&#x017F;on von niedrigem Stande begangen hätte!<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Theil.</hi> N</fw><fw place="bottom" type="catch">Denn</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0215] Prüfung darüber. freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin reißen laſſen, und dadurch ſelbſt das Gute, was ich vielleicht that und redete, unwirkſam, oder gar ſchädlich gemacht? Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich weinen, oder ſich meinetwegen bekümmern ſollte! — Gott, wie dürfen wir dich Vater nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn wir einander betrüben, und uns das Leben wechſelsweiſe erſchweren und verdittern! Wie könnteſt du da mit Wohlgefallen auf uns her- abſehen und deine Luſt an uns haben! Ach, könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer- ten Bruder ſogleich an mein Herz drücken, ihm ſeinen Kummer benehmen, ſeine Thränen ab- wiſchen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja, wenn mich mein Gewiſſen dieſes Fehlers be- ſchuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht des morgenden Tages erblicken, ſo will ich dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann. Ich will mich nicht ſchämen, meinen Fehler zu geſtehen und ihn auf alle Weiſe zu vergüten, wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter- gebenen, gegen mein Geſinde, gegen eine Per- ſon von niedrigem Stande begangen hätte! Denn Erſter Theil. N

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/215
Zitationshilfe: Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/215>, abgerufen am 04.12.2024.