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Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.

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Nachdenken, vernünftiges Nachdenken ist
die Mutter der Weisheit, die vertrau-
teste Freundinn der Tugend, die vornehmste
Quelle der menschlichen Glückseligkeit. Dafür
ist es von weisen und guten Menschen zu allen
Zeiten erkannt werden, und noch itzt behauptet
es diesen Ruhm. Dessen ungeachtet ist die-
ses Nachdenken vielen Menschen ganz fremde,
und fällt den meisten sehr schwer.

Wir denken freylich alle; wir denken im-
mer; der Nichtgelehrte sowohl als der Gelehr-
te, der Müssiggänger sowohl als der geschäff-
tige Mann. Denken machet das Leben der
Seele, so wie Bewegung das Leben des Kör-
pers aus. Jenes ist zum Theil eben so un-
willkührlich als diese: gar nicht zu denken,
oder gewisse Gedanken ganz zu unterdrücken,
steht noch weniger in unsrer Gewalt, als den
Lauf des Blutes oder andrer Säfte unsers
Körpers zu hemmen. Unaufhörlich erhalten
wir stärkere oder schwächere Eindrücke von den
äußern Dingen, die uns umgeben, und von
den Veränderungen, die in uns vorgehen; und

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Nachdenken, vernünftiges Nachdenken iſt
die Mutter der Weisheit, die vertrau-
teſte Freundinn der Tugend, die vornehmſte
Quelle der menſchlichen Glückſeligkeit. Dafür
iſt es von weiſen und guten Menſchen zu allen
Zeiten erkannt werden, und noch itzt behauptet
es dieſen Ruhm. Deſſen ungeachtet iſt die-
ſes Nachdenken vielen Menſchen ganz fremde,
und fällt den meiſten ſehr ſchwer.

Wir denken freylich alle; wir denken im-
mer; der Nichtgelehrte ſowohl als der Gelehr-
te, der Müſſiggänger ſowohl als der geſchäff-
tige Mann. Denken machet das Leben der
Seele, ſo wie Bewegung das Leben des Kör-
pers aus. Jenes iſt zum Theil eben ſo un-
willkührlich als dieſe: gar nicht zu denken,
oder gewiſſe Gedanken ganz zu unterdrücken,
ſteht noch weniger in unſrer Gewalt, als den
Lauf des Blutes oder andrer Säfte unſers
Körpers zu hemmen. Unaufhörlich erhalten
wir ſtärkere oder ſchwächere Eindrücke von den
äußern Dingen, die uns umgeben, und von
den Veränderungen, die in uns vorgehen; und

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[[3]/0025] Nachdenken, vernünftiges Nachdenken iſt die Mutter der Weisheit, die vertrau- teſte Freundinn der Tugend, die vornehmſte Quelle der menſchlichen Glückſeligkeit. Dafür iſt es von weiſen und guten Menſchen zu allen Zeiten erkannt werden, und noch itzt behauptet es dieſen Ruhm. Deſſen ungeachtet iſt die- ſes Nachdenken vielen Menſchen ganz fremde, und fällt den meiſten ſehr ſchwer. Wir denken freylich alle; wir denken im- mer; der Nichtgelehrte ſowohl als der Gelehr- te, der Müſſiggänger ſowohl als der geſchäff- tige Mann. Denken machet das Leben der Seele, ſo wie Bewegung das Leben des Kör- pers aus. Jenes iſt zum Theil eben ſo un- willkührlich als dieſe: gar nicht zu denken, oder gewiſſe Gedanken ganz zu unterdrücken, ſteht noch weniger in unſrer Gewalt, als den Lauf des Blutes oder andrer Säfte unſers Körpers zu hemmen. Unaufhörlich erhalten wir ſtärkere oder ſchwächere Eindrücke von den äußern Dingen, die uns umgeben, und von den Veränderungen, die in uns vorgehen; und dieſes A 2

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Zitationshilfe: Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/25>, abgerufen am 13.06.2024.