Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906.Zartgefühl besitzt, auf das du so grossen Wert legst, ein Zartgefühl, das immer sehr selten ist, selbst bei denen, bei welchen man es vermutet: Er wird dich lieben, und du wirst mit ihm glücklich sein." "Ja, Mama, ein Glück wie das deine," schrie Manon mit einem tiefen Seufzer auf. Madame Phlipon kam ausser Fassung und schwieg. Seither sprach sie nie wieder über Heiraten mit ihrer Tochter, noch versuchte sie es, sie zu irgend einem Entschluss zu drängen. Das Wort war Manon entschlüpft, wie der Ausdruck einer lebhaften Empfindung, über die man nicht nachgedacht hat, einem Menschen entfährt. Der Eindruck, den ihre Bemerkung hervorrief, bewies nur ihre all zu grosse Richtigkeit. Die Fremden sahen wohl auf den ersten Blick den Unterschied zwischen Mutter und Vater, aber niemand konnte die Vorzüglichkeit der Mutter mehr schätzen als Manon. Was die arme Frau jedoch in der Ehe litt, konnte das junge Mädchen nicht annähernd beurteilen, sie war seit ihrer Kindheit gewohnt, den tiefsten Frieden im Hause herrschen zu sehen, sie vermochte es nicht zu beurteilen, ob es mühselig war, ihn aufrecht zu erhalten. Der Vater hatte seine Frau gerne und liebte seine Tochter zärtlich. Man sah nie ein Zeichen des Vorwurfs oder der Unzufriedenheit auf dem Gesicht von Madame Phlipon; wenn sie nicht der Ansicht ihres Mannes war und diese nicht hatte abändern können, so hätte man meinen können, dass sie sich ohne Schwierigkeit fügte. In den letzten Jahren, wenn die Diskussionen des Vaters heftig wurden, nahm sich Manon heraus einzugreifen, sie hatte einen gewissen Einfluss, meist gab er ihr eher nach, als seiner Frau. In Manons Gegenwart wagte er es nicht, seine Frau zu quälen. Manon hatte viel Takt und erwähnte nie ein Wort über die Vorfälle, wenn der Vater fort war, sie tat, als hätte sie alles vergessen. Sie war imstande, für ihre Mutter deren Gatten zu bekämpfen, aber war dieser Gatte abwesend, so war er nur mehr ihr eigener Vater, über den man schwieg, wenn man nichts Freundliches über ihn zu sagen wusste. Zartgefühl besitzt, auf das du so grossen Wert legst, ein Zartgefühl, das immer sehr selten ist, selbst bei denen, bei welchen man es vermutet: Er wird dich lieben, und du wirst mit ihm glücklich sein.“ „Ja, Mama, ein Glück wie das deine,“ schrie Manon mit einem tiefen Seufzer auf. Madame Phlipon kam ausser Fassung und schwieg. Seither sprach sie nie wieder über Heiraten mit ihrer Tochter, noch versuchte sie es, sie zu irgend einem Entschluss zu drängen. Das Wort war Manon entschlüpft, wie der Ausdruck einer lebhaften Empfindung, über die man nicht nachgedacht hat, einem Menschen entfährt. Der Eindruck, den ihre Bemerkung hervorrief, bewies nur ihre all zu grosse Richtigkeit. Die Fremden sahen wohl auf den ersten Blick den Unterschied zwischen Mutter und Vater, aber niemand konnte die Vorzüglichkeit der Mutter mehr schätzen als Manon. Was die arme Frau jedoch in der Ehe litt, konnte das junge Mädchen nicht annähernd beurteilen, sie war seit ihrer Kindheit gewohnt, den tiefsten Frieden im Hause herrschen zu sehen, sie vermochte es nicht zu beurteilen, ob es mühselig war, ihn aufrecht zu erhalten. Der Vater hatte seine Frau gerne und liebte seine Tochter zärtlich. Man sah nie ein Zeichen des Vorwurfs oder der Unzufriedenheit auf dem Gesicht von Madame Phlipon; wenn sie nicht der Ansicht ihres Mannes war und diese nicht hatte abändern können, so hätte man meinen können, dass sie sich ohne Schwierigkeit fügte. In den letzten Jahren, wenn die Diskussionen des Vaters heftig wurden, nahm sich Manon heraus einzugreifen, sie hatte einen gewissen Einfluss, meist gab er ihr eher nach, als seiner Frau. In Manons Gegenwart wagte er es nicht, seine Frau zu quälen. Manon hatte viel Takt und erwähnte nie ein Wort über die Vorfälle, wenn der Vater fort war, sie tat, als hätte sie alles vergessen. Sie war imstande, für ihre Mutter deren Gatten zu bekämpfen, aber war dieser Gatte abwesend, so war er nur mehr ihr eigener Vater, über den man schwieg, wenn man nichts Freundliches über ihn zu sagen wusste. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0098" n="79"/> Zartgefühl besitzt, auf das du so grossen Wert legst, ein Zartgefühl, das immer sehr selten ist, selbst bei denen, bei welchen man es vermutet: Er wird dich lieben, und du wirst mit ihm glücklich sein.“ „Ja, Mama, ein Glück wie das deine,“ schrie Manon mit einem tiefen Seufzer auf.</p> <p>Madame Phlipon kam ausser Fassung und schwieg. Seither sprach sie nie wieder über Heiraten mit ihrer Tochter, noch versuchte sie es, sie zu irgend einem Entschluss zu drängen. Das Wort war Manon entschlüpft, wie der Ausdruck einer lebhaften Empfindung, über die man nicht nachgedacht hat, einem Menschen entfährt. Der Eindruck, den ihre Bemerkung hervorrief, bewies nur ihre all zu grosse Richtigkeit. Die Fremden sahen wohl auf den ersten Blick den Unterschied zwischen Mutter und Vater, aber niemand konnte die Vorzüglichkeit der Mutter mehr schätzen als Manon. Was die arme Frau jedoch in der Ehe litt, konnte das junge Mädchen nicht annähernd beurteilen, sie war seit ihrer Kindheit gewohnt, den tiefsten Frieden im Hause herrschen zu sehen, sie vermochte es nicht zu beurteilen, ob es mühselig war, ihn aufrecht zu erhalten. Der Vater hatte seine Frau gerne und liebte seine Tochter zärtlich. Man sah nie ein Zeichen des Vorwurfs oder der Unzufriedenheit auf dem Gesicht von Madame Phlipon; wenn sie nicht der Ansicht ihres Mannes war und diese nicht hatte abändern können, so hätte man meinen können, dass sie sich ohne Schwierigkeit fügte. In den letzten Jahren, wenn die Diskussionen des Vaters heftig wurden, nahm sich Manon heraus einzugreifen, sie hatte einen gewissen Einfluss, meist gab er ihr eher nach, als seiner Frau. In Manons Gegenwart wagte er es nicht, seine Frau zu quälen. Manon hatte viel Takt und erwähnte nie ein Wort über die Vorfälle, wenn der Vater fort war, sie tat, als hätte sie alles vergessen. Sie war imstande, für ihre Mutter deren Gatten zu bekämpfen, aber war dieser Gatte abwesend, so war er nur mehr ihr eigener Vater, über den man schwieg, wenn man nichts Freundliches über ihn zu sagen wusste.</p> </div> </body> </text> </TEI> [79/0098]
Zartgefühl besitzt, auf das du so grossen Wert legst, ein Zartgefühl, das immer sehr selten ist, selbst bei denen, bei welchen man es vermutet: Er wird dich lieben, und du wirst mit ihm glücklich sein.“ „Ja, Mama, ein Glück wie das deine,“ schrie Manon mit einem tiefen Seufzer auf.
Madame Phlipon kam ausser Fassung und schwieg. Seither sprach sie nie wieder über Heiraten mit ihrer Tochter, noch versuchte sie es, sie zu irgend einem Entschluss zu drängen. Das Wort war Manon entschlüpft, wie der Ausdruck einer lebhaften Empfindung, über die man nicht nachgedacht hat, einem Menschen entfährt. Der Eindruck, den ihre Bemerkung hervorrief, bewies nur ihre all zu grosse Richtigkeit. Die Fremden sahen wohl auf den ersten Blick den Unterschied zwischen Mutter und Vater, aber niemand konnte die Vorzüglichkeit der Mutter mehr schätzen als Manon. Was die arme Frau jedoch in der Ehe litt, konnte das junge Mädchen nicht annähernd beurteilen, sie war seit ihrer Kindheit gewohnt, den tiefsten Frieden im Hause herrschen zu sehen, sie vermochte es nicht zu beurteilen, ob es mühselig war, ihn aufrecht zu erhalten. Der Vater hatte seine Frau gerne und liebte seine Tochter zärtlich. Man sah nie ein Zeichen des Vorwurfs oder der Unzufriedenheit auf dem Gesicht von Madame Phlipon; wenn sie nicht der Ansicht ihres Mannes war und diese nicht hatte abändern können, so hätte man meinen können, dass sie sich ohne Schwierigkeit fügte. In den letzten Jahren, wenn die Diskussionen des Vaters heftig wurden, nahm sich Manon heraus einzugreifen, sie hatte einen gewissen Einfluss, meist gab er ihr eher nach, als seiner Frau. In Manons Gegenwart wagte er es nicht, seine Frau zu quälen. Manon hatte viel Takt und erwähnte nie ein Wort über die Vorfälle, wenn der Vater fort war, sie tat, als hätte sie alles vergessen. Sie war imstande, für ihre Mutter deren Gatten zu bekämpfen, aber war dieser Gatte abwesend, so war er nur mehr ihr eigener Vater, über den man schwieg, wenn man nichts Freundliches über ihn zu sagen wusste.
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