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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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reflex eine Leistung der psychomotorischen Sphäre in der postembryo-
nalen Zeit sei, veranlassen mich, alle Anomalien der Schleimhautreflexe
als fehlerhafte Leistung eines minderwertigen Organes hinzustellen. Der
reine Typus dieser fehlerhaften Leistung, die mit den früher besprochenen
Kinderfehlern eine große Verwandtschaft zeigt, ist der Mangel des Re-
flexes, während der Steigerung der Charakter der Überkompensation
beizumessen ist. Die Vorgänge, die zur Steigerung des Reflexes führen,
knüpfen offenbar an ein minderwertiges, aber leistungsfähigeres Nerven-
material an, steigern dessen Energie und Einfluß auf die Reflexzone
und erzwingen so die höhere Reflextechnik. Wie später noch gezeigt
werden soll, steht das minderwertige Organ mit seinem psychischen
Überbau fast regelmäßig im Brennpunkte des Interesses seines Trägers.
Es ist das mißratene, aber verhätschelte Organ, das infolge bewußter
und unbewußter Aufmerksamkeit stets die Psyche in Erregung erhält.
Neu anlangende Reize -- die Leitung zum Gehirn ist ja trotz Reflex-
mangel zumeist ungestört -- gelangen so nach und nach in ein Gebiet
höherer psychischer Spannung, die um so größer ist, je weniger durch
motorischen Reflex von ihr abgeführt wird. Dieser Zustand kann durch
das ganze Leben andauern. Recht häufig aber scheint sich in früher
Kindheit offenbar auf dem Wege der Kompensation eine Erhöhung der
Reflexfähigkeit durchzusetzen, die in gleicher Weise von der ursprüng-
lichen Minderwertigkeit des zugehörigen Organes, zuweilen auch des
Segmentes Zeugnis ablegt.

Was nun die Ergebnisse meiner Untersuchungen bezüglich des
Gaumenreflexes anlangt, so fügen sie sich, wie auch die Erfahrungen
beim Konjunktivalreflex, ganz meiner bisherigen Darstellung. Man findet
Mangel oder Steigerung des Gaumenreflexes bei den verschiedensten
Erkrankungen des Ernährungs- und Respirationstraktes, vor allem bei
Angina, Lungentuberkulose, Nasen- und Kehlkopferkrankungen und bei
bestimmten Berufen, zu deren Erfüllung das Entgegenkommen eines
minderwertigen, aber überkompensierten Organes nötig ist, wie bei
Sängern, Rednern und Instrumentenbläsern. Ich konnte mich in allen
diesen Fällen von dem Überwiegen eines Reflexmangels überzeugen. Den
Einwand, daß hier keine Koordination, sondern eine durch die Krank-
heit oder den Beruf bedingte Anomalie vorliege, kann ich durch den
Hinweis auf die Heredität der Reflexanomalie ohne weiteres beseitigen;
der übermäßige oder fehlende Gaumenreflex findet sich fast immer bei
den engeren Gliedern der Familie wieder, ohne daß die Anomalie mit
Krankheit oder Beruf im Zusammenhang sein müßte. Andrerseits geht
aber aus meiner Auffassung eine Erklärung der Tatsache hervor, daß

reflex eine Leistung der psychomotorischen Sphäre in der postembryo-
nalen Zeit sei, veranlassen mich, alle Anomalien der Schleimhautreflexe
als fehlerhafte Leistung eines minderwertigen Organes hinzustellen. Der
reine Typus dieser fehlerhaften Leistung, die mit den früher besprochenen
Kinderfehlern eine große Verwandtschaft zeigt, ist der Mangel des Re-
flexes, während der Steigerung der Charakter der Überkompensation
beizumessen ist. Die Vorgänge, die zur Steigerung des Reflexes führen,
knüpfen offenbar an ein minderwertiges, aber leistungsfähigeres Nerven-
material an, steigern dessen Energie und Einfluß auf die Reflexzone
und erzwingen so die höhere Reflextechnik. Wie später noch gezeigt
werden soll, steht das minderwertige Organ mit seinem psychischen
Überbau fast regelmäßig im Brennpunkte des Interesses seines Trägers.
Es ist das mißratene, aber verhätschelte Organ, das infolge bewußter
und unbewußter Aufmerksamkeit stets die Psyche in Erregung erhält.
Neu anlangende Reize — die Leitung zum Gehirn ist ja trotz Reflex-
mangel zumeist ungestört — gelangen so nach und nach in ein Gebiet
höherer psychischer Spannung, die um so größer ist, je weniger durch
motorischen Reflex von ihr abgeführt wird. Dieser Zustand kann durch
das ganze Leben andauern. Recht häufig aber scheint sich in früher
Kindheit offenbar auf dem Wege der Kompensation eine Erhöhung der
Reflexfähigkeit durchzusetzen, die in gleicher Weise von der ursprüng-
lichen Minderwertigkeit des zugehörigen Organes, zuweilen auch des
Segmentes Zeugnis ablegt.

Was nun die Ergebnisse meiner Untersuchungen bezüglich des
Gaumenreflexes anlangt, so fügen sie sich, wie auch die Erfahrungen
beim Konjunktivalreflex, ganz meiner bisherigen Darstellung. Man findet
Mangel oder Steigerung des Gaumenreflexes bei den verschiedensten
Erkrankungen des Ernährungs- und Respirationstraktes, vor allem bei
Angina, Lungentuberkulose, Nasen- und Kehlkopferkrankungen und bei
bestimmten Berufen, zu deren Erfüllung das Entgegenkommen eines
minderwertigen, aber überkompensierten Organes nötig ist, wie bei
Sängern, Rednern und Instrumentenbläsern. Ich konnte mich in allen
diesen Fällen von dem Überwiegen eines Reflexmangels überzeugen. Den
Einwand, daß hier keine Koordination, sondern eine durch die Krank-
heit oder den Beruf bedingte Anomalie vorliege, kann ich durch den
Hinweis auf die Heredität der Reflexanomalie ohne weiteres beseitigen;
der übermäßige oder fehlende Gaumenreflex findet sich fast immer bei
den engeren Gliedern der Familie wieder, ohne daß die Anomalie mit
Krankheit oder Beruf im Zusammenhang sein müßte. Andrerseits geht
aber aus meiner Auffassung eine Erklärung der Tatsache hervor, daß

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[47/0059] reflex eine Leistung der psychomotorischen Sphäre in der postembryo- nalen Zeit sei, veranlassen mich, alle Anomalien der Schleimhautreflexe als fehlerhafte Leistung eines minderwertigen Organes hinzustellen. Der reine Typus dieser fehlerhaften Leistung, die mit den früher besprochenen Kinderfehlern eine große Verwandtschaft zeigt, ist der Mangel des Re- flexes, während der Steigerung der Charakter der Überkompensation beizumessen ist. Die Vorgänge, die zur Steigerung des Reflexes führen, knüpfen offenbar an ein minderwertiges, aber leistungsfähigeres Nerven- material an, steigern dessen Energie und Einfluß auf die Reflexzone und erzwingen so die höhere Reflextechnik. Wie später noch gezeigt werden soll, steht das minderwertige Organ mit seinem psychischen Überbau fast regelmäßig im Brennpunkte des Interesses seines Trägers. Es ist das mißratene, aber verhätschelte Organ, das infolge bewußter und unbewußter Aufmerksamkeit stets die Psyche in Erregung erhält. Neu anlangende Reize — die Leitung zum Gehirn ist ja trotz Reflex- mangel zumeist ungestört — gelangen so nach und nach in ein Gebiet höherer psychischer Spannung, die um so größer ist, je weniger durch motorischen Reflex von ihr abgeführt wird. Dieser Zustand kann durch das ganze Leben andauern. Recht häufig aber scheint sich in früher Kindheit offenbar auf dem Wege der Kompensation eine Erhöhung der Reflexfähigkeit durchzusetzen, die in gleicher Weise von der ursprüng- lichen Minderwertigkeit des zugehörigen Organes, zuweilen auch des Segmentes Zeugnis ablegt. Was nun die Ergebnisse meiner Untersuchungen bezüglich des Gaumenreflexes anlangt, so fügen sie sich, wie auch die Erfahrungen beim Konjunktivalreflex, ganz meiner bisherigen Darstellung. Man findet Mangel oder Steigerung des Gaumenreflexes bei den verschiedensten Erkrankungen des Ernährungs- und Respirationstraktes, vor allem bei Angina, Lungentuberkulose, Nasen- und Kehlkopferkrankungen und bei bestimmten Berufen, zu deren Erfüllung das Entgegenkommen eines minderwertigen, aber überkompensierten Organes nötig ist, wie bei Sängern, Rednern und Instrumentenbläsern. Ich konnte mich in allen diesen Fällen von dem Überwiegen eines Reflexmangels überzeugen. Den Einwand, daß hier keine Koordination, sondern eine durch die Krank- heit oder den Beruf bedingte Anomalie vorliege, kann ich durch den Hinweis auf die Heredität der Reflexanomalie ohne weiteres beseitigen; der übermäßige oder fehlende Gaumenreflex findet sich fast immer bei den engeren Gliedern der Familie wieder, ohne daß die Anomalie mit Krankheit oder Beruf im Zusammenhang sein müßte. Andrerseits geht aber aus meiner Auffassung eine Erklärung der Tatsache hervor, daß

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/59>, abgerufen am 28.11.2024.