diesen Kreisen war es längst entschieden. Welcher Mann von Bildung hätte zarten Lippen widerspro¬ chen, welche dem Dichter, der gesungen:
Ehret die Frauen, sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben.
den Preis zuerkannten! Es war nur seltsam, daß der Streit, trotz der Entscheidung, immer wieder von Neuem aufgeworfen werden konnte. Eine Geheim¬ räthin -- es war aber eine dritte Geheimräthin -- stellte sogar die Behauptung auf, während jede Seite in Schiller wenigstens ein nobles Sentiment enthalte, wisse sie keine einzige Sentenz in Goethe, welche die Seele rührt und erhebt. Dies fand doch Wider¬ spruch, und man citirte aus der Iphigenie die Verse:
Weh dem der fern von Eltern und Geschwistern,
Ein einsam Leben führt, ihm zehrt der Gram
Das nächste Glück von seinen Lippen weg.
Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo
Sich Mitgeborne spielend fest und fester
Mit sanften Banden aneinander knüpften.
Ein junger Mann mit blassem ernsten, aber et¬ was eingefallenen Gesicht recitirte die Verse mit Ausdruck. Man schwieg eine Weile. Als die Ge¬ heimräthin sie schön fand, drückten Alle ihre Bewun¬ derung aus. Eine Dame hatte bis da geglaubt, sie rührten von Schiller her, sie hatte die Erhabenheit des Gefühls Goethe nicht zugetraut. Doch bemerkte sie, die Verse ründeten sich nicht so wie bei Schiller,
dieſen Kreiſen war es längſt entſchieden. Welcher Mann von Bildung hätte zarten Lippen widerſpro¬ chen, welche dem Dichter, der geſungen:
Ehret die Frauen, ſie flechten und weben
Himmliſche Roſen ins irdiſche Leben.
den Preis zuerkannten! Es war nur ſeltſam, daß der Streit, trotz der Entſcheidung, immer wieder von Neuem aufgeworfen werden konnte. Eine Geheim¬ räthin — es war aber eine dritte Geheimräthin — ſtellte ſogar die Behauptung auf, während jede Seite in Schiller wenigſtens ein nobles Sentiment enthalte, wiſſe ſie keine einzige Sentenz in Goethe, welche die Seele rührt und erhebt. Dies fand doch Wider¬ ſpruch, und man citirte aus der Iphigenie die Verſe:
Weh dem der fern von Eltern und Geſchwiſtern,
Ein einſam Leben führt, ihm zehrt der Gram
Das nächſte Glück von ſeinen Lippen weg.
Ihm ſchwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach ſeines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerſt den Himmel vor ihm aufſchloß, wo
Sich Mitgeborne ſpielend feſt und feſter
Mit ſanften Banden aneinander knüpften.
Ein junger Mann mit blaſſem ernſten, aber et¬ was eingefallenen Geſicht recitirte die Verſe mit Ausdruck. Man ſchwieg eine Weile. Als die Ge¬ heimräthin ſie ſchön fand, drückten Alle ihre Bewun¬ derung aus. Eine Dame hatte bis da geglaubt, ſie rührten von Schiller her, ſie hatte die Erhabenheit des Gefühls Goethe nicht zugetraut. Doch bemerkte ſie, die Verſe ründeten ſich nicht ſo wie bei Schiller,
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dieſen Kreiſen war es längſt entſchieden. Welcher
Mann von Bildung hätte zarten Lippen widerſpro¬
chen, welche dem Dichter, der geſungen:
Ehret die Frauen, ſie flechten und weben
Himmliſche Roſen ins irdiſche Leben.
den Preis zuerkannten! Es war nur ſeltſam, daß
der Streit, trotz der Entſcheidung, immer wieder von
Neuem aufgeworfen werden konnte. Eine Geheim¬
räthin — es war aber eine dritte Geheimräthin —
ſtellte ſogar die Behauptung auf, während jede Seite
in Schiller wenigſtens ein nobles Sentiment enthalte,
wiſſe ſie keine einzige Sentenz in Goethe, welche
die Seele rührt und erhebt. Dies fand doch Wider¬
ſpruch, und man citirte aus der Iphigenie die Verſe:
Weh dem der fern von Eltern und Geſchwiſtern,
Ein einſam Leben führt, ihm zehrt der Gram
Das nächſte Glück von ſeinen Lippen weg.
Ihm ſchwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach ſeines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerſt den Himmel vor ihm aufſchloß, wo
Sich Mitgeborne ſpielend feſt und feſter
Mit ſanften Banden aneinander knüpften.
Ein junger Mann mit blaſſem ernſten, aber et¬
was eingefallenen Geſicht recitirte die Verſe mit
Ausdruck. Man ſchwieg eine Weile. Als die Ge¬
heimräthin ſie ſchön fand, drückten Alle ihre Bewun¬
derung aus. Eine Dame hatte bis da geglaubt, ſie
rührten von Schiller her, ſie hatte die Erhabenheit
des Gefühls Goethe nicht zugetraut. Doch bemerkte
ſie, die Verſe ründeten ſich nicht ſo wie bei Schiller,
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/59>, abgerufen am 16.02.2025.
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