pitale mehr, als Sie denken. Vor seinem durch¬ dringenden Blicke ist kein Winkel in Madrid und Constantinopel verborgen, aber in Deutschland, diesem Land der Ideen und Schulen, sind ihm überall Querzäune, Hecken und Gräben gezogen. Er hat sich oft darüber geäußert. Wenn er über Reuß- Greitz im Klaren zu sein glaubt, gewahrt er plötzlich, daß es in Reuß-Schleitz ganz anders aussieht. Hier verehren sie Schiller, dort Goethe. Dort Kant, hier Fichte. Hier gilt schon etwas für Dummheit und Aberglauben, was dort noch gefährliche Aufklärung ist. Feine Conjecturalpolitik, logische Schlüsse rei¬ chen auf dies Land der Mannigfaltigkeiten nicht aus. Da stampft er mit dem Fuß, schreibt eigenhändig Marginal-Bemerkungen: Warum dies? Warum das? -- Ein französischer Gesandter an einem deut¬ schen Hofe müßte eigentlich erst auf deutsche Schulen gehen, wenn er alle Fragen des genialen Mannes beantworten wollte."
"Allerdings bequemer, wenn man auch Deutsch¬ land über einen Leisten scheeren könnte."
Der Gesandte lächelte beifällig.
"Er hat ein gutes Scheermesser, wie Sie wis¬ sen, und was das übrige Deutschland betrifft, so kommt es ihm auf einige Höcker mehr oder weniger nicht an. Aber warum Ihr specielles Vaterland sich noch zu Deutschland rechnet, das interessirt ihn. Diese intensiven Bande der Sprache, des Gefühls, der Poesie und Philosophie."
pitale mehr, als Sie denken. Vor ſeinem durch¬ dringenden Blicke iſt kein Winkel in Madrid und Conſtantinopel verborgen, aber in Deutſchland, dieſem Land der Ideen und Schulen, ſind ihm überall Querzäune, Hecken und Gräben gezogen. Er hat ſich oft darüber geäußert. Wenn er über Reuß- Greitz im Klaren zu ſein glaubt, gewahrt er plötzlich, daß es in Reuß-Schleitz ganz anders ausſieht. Hier verehren ſie Schiller, dort Goethe. Dort Kant, hier Fichte. Hier gilt ſchon etwas für Dummheit und Aberglauben, was dort noch gefährliche Aufklärung iſt. Feine Conjecturalpolitik, logiſche Schlüſſe rei¬ chen auf dies Land der Mannigfaltigkeiten nicht aus. Da ſtampft er mit dem Fuß, ſchreibt eigenhändig Marginal-Bemerkungen: Warum dies? Warum das? — Ein franzöſiſcher Geſandter an einem deut¬ ſchen Hofe müßte eigentlich erſt auf deutſche Schulen gehen, wenn er alle Fragen des genialen Mannes beantworten wollte.“
„Allerdings bequemer, wenn man auch Deutſch¬ land über einen Leiſten ſcheeren könnte.“
Der Geſandte lächelte beifällig.
„Er hat ein gutes Scheermeſſer, wie Sie wiſ¬ ſen, und was das übrige Deutſchland betrifft, ſo kommt es ihm auf einige Höcker mehr oder weniger nicht an. Aber warum Ihr ſpecielles Vaterland ſich noch zu Deutſchland rechnet, das intereſſirt ihn. Dieſe intenſiven Bande der Sprache, des Gefühls, der Poeſie und Philoſophie.“
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pitale mehr, als Sie denken. Vor ſeinem durch¬
dringenden Blicke iſt kein Winkel in Madrid und
Conſtantinopel verborgen, aber in Deutſchland, dieſem
Land der Ideen und Schulen, ſind ihm überall
Querzäune, Hecken und Gräben gezogen. Er hat
ſich oft darüber geäußert. Wenn er über Reuß-
Greitz im Klaren zu ſein glaubt, gewahrt er plötzlich,
daß es in Reuß-Schleitz ganz anders ausſieht. Hier
verehren ſie Schiller, dort Goethe. Dort Kant, hier
Fichte. Hier gilt ſchon etwas für Dummheit und
Aberglauben, was dort noch gefährliche Aufklärung
iſt. Feine Conjecturalpolitik, logiſche Schlüſſe rei¬
chen auf dies Land der Mannigfaltigkeiten nicht aus.
Da ſtampft er mit dem Fuß, ſchreibt eigenhändig
Marginal-Bemerkungen: Warum dies? Warum
das? — Ein franzöſiſcher Geſandter an einem deut¬
ſchen Hofe müßte eigentlich erſt auf deutſche Schulen
gehen, wenn er alle Fragen des genialen Mannes
beantworten wollte.“
„Allerdings bequemer, wenn man auch Deutſch¬
land über einen Leiſten ſcheeren könnte.“
Der Geſandte lächelte beifällig.
„Er hat ein gutes Scheermeſſer, wie Sie wiſ¬
ſen, und was das übrige Deutſchland betrifft, ſo
kommt es ihm auf einige Höcker mehr oder weniger
nicht an. Aber warum Ihr ſpecielles Vaterland ſich
noch zu Deutſchland rechnet, das intereſſirt ihn.
Dieſe intenſiven Bande der Sprache, des Gefühls,
der Poeſie und Philoſophie.“
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/110>, abgerufen am 23.11.2024.
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