Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

"Heut könnte ich es nicht lesen, fiel Adelheid
ein, es ist zu schrecklich."

"Für den schönen Morgen! Sie haben Recht.
Wir müssen uns heut allein mit dem Character der
Iphigenia beschäftigen. Iphigenia ist der leuchtende
Gedanke der Versöhnung, der in der alten Welt wie
ein Strahl auf dunklem Meere erscheint, aber er
fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was
die griechischen Dichter noch als einen Torso hinstell¬
ten, hat der Deutsche, der aus anderer Quelle sein
Licht schöpfte, zur Erscheinung gebracht. Dieses Atri¬
dengeschlecht -- "

"Um Gottes Willen, rief Adelheid, wie konn¬
ten die alten Dichter so etwas ersinnen! Sie sagten
doch, die Griechen hätten immer der Schönheit ge¬
huldigt, und selbst dem Häßlichen wußten sie eine
Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht ver¬
letzte. Wie ist es nun möglich, daß sie solche Gräuel
erfanden, die doch unmöglich sind?"

"Unmöglich? fragte der Lehrer. Die erste Ge¬
schichte des Hellenenthums ist nur eine Verkörperung
des Kampfes, den die Cultur mit der Barbarei ge¬
führt. Der Barbarei ist alles möglich, und wenn
der finstre religiöse Wahn hinzutritt, ist sie zu Gräueln
fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Er¬
tödten wir aber die Cultur, reißen wir die edle Hu¬
manität an der Wurzel aus, welche Kunst, Wissen¬
schaft, der Geist des Christenthums jetzt durch Jahr¬
tausende gepflanzt und gepflegt, so sinken wir Alle

„Heut könnte ich es nicht leſen, fiel Adelheid
ein, es iſt zu ſchrecklich.“

„Für den ſchönen Morgen! Sie haben Recht.
Wir müſſen uns heut allein mit dem Character der
Iphigenia beſchäftigen. Iphigenia iſt der leuchtende
Gedanke der Verſöhnung, der in der alten Welt wie
ein Strahl auf dunklem Meere erſcheint, aber er
fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was
die griechiſchen Dichter noch als einen Torſo hinſtell¬
ten, hat der Deutſche, der aus anderer Quelle ſein
Licht ſchöpfte, zur Erſcheinung gebracht. Dieſes Atri¬
dengeſchlecht — “

„Um Gottes Willen, rief Adelheid, wie konn¬
ten die alten Dichter ſo etwas erſinnen! Sie ſagten
doch, die Griechen hätten immer der Schönheit ge¬
huldigt, und ſelbſt dem Häßlichen wußten ſie eine
Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht ver¬
letzte. Wie iſt es nun möglich, daß ſie ſolche Gräuel
erfanden, die doch unmöglich ſind?“

„Unmöglich? fragte der Lehrer. Die erſte Ge¬
ſchichte des Hellenenthums iſt nur eine Verkörperung
des Kampfes, den die Cultur mit der Barbarei ge¬
führt. Der Barbarei iſt alles möglich, und wenn
der finſtre religiöſe Wahn hinzutritt, iſt ſie zu Gräueln
fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Er¬
tödten wir aber die Cultur, reißen wir die edle Hu¬
manität an der Wurzel aus, welche Kunſt, Wiſſen¬
ſchaft, der Geiſt des Chriſtenthums jetzt durch Jahr¬
tauſende gepflanzt und gepflegt, ſo ſinken wir Alle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0229" n="219"/>
        <p>&#x201E;Heut könnte ich es nicht le&#x017F;en, fiel Adelheid<lb/>
ein, es i&#x017F;t zu &#x017F;chrecklich.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Für den &#x017F;chönen Morgen! Sie haben Recht.<lb/>
Wir mü&#x017F;&#x017F;en uns heut allein mit dem Character der<lb/>
Iphigenia be&#x017F;chäftigen. Iphigenia i&#x017F;t der leuchtende<lb/>
Gedanke der Ver&#x017F;öhnung, der in der alten Welt wie<lb/>
ein Strahl auf dunklem Meere er&#x017F;cheint, aber er<lb/>
fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was<lb/>
die griechi&#x017F;chen Dichter noch als einen Tor&#x017F;o hin&#x017F;tell¬<lb/>
ten, hat der Deut&#x017F;che, der aus anderer Quelle &#x017F;ein<lb/>
Licht &#x017F;chöpfte, zur Er&#x017F;cheinung gebracht. Die&#x017F;es Atri¬<lb/>
denge&#x017F;chlecht &#x2014; &#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Um Gottes Willen, rief Adelheid, wie konn¬<lb/>
ten die alten Dichter &#x017F;o etwas er&#x017F;innen! Sie &#x017F;agten<lb/>
doch, die Griechen hätten immer der Schönheit ge¬<lb/>
huldigt, und &#x017F;elb&#x017F;t dem Häßlichen wußten &#x017F;ie eine<lb/>
Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht ver¬<lb/>
letzte. Wie i&#x017F;t es nun möglich, daß &#x017F;ie &#x017F;olche Gräuel<lb/>
erfanden, die doch unmöglich &#x017F;ind?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Unmöglich? fragte der Lehrer. Die er&#x017F;te Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte des Hellenenthums i&#x017F;t nur eine Verkörperung<lb/>
des Kampfes, den die Cultur mit der Barbarei ge¬<lb/>
führt. Der Barbarei i&#x017F;t alles möglich, und wenn<lb/>
der fin&#x017F;tre religiö&#x017F;e Wahn hinzutritt, i&#x017F;t &#x017F;ie zu Gräueln<lb/>
fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Er¬<lb/>
tödten wir aber die Cultur, reißen wir die edle Hu¬<lb/>
manität an der Wurzel aus, welche Kun&#x017F;t, Wi&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;chaft, der Gei&#x017F;t des Chri&#x017F;tenthums jetzt durch Jahr¬<lb/>
tau&#x017F;ende gepflanzt und gepflegt, &#x017F;o &#x017F;inken wir Alle<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0229] „Heut könnte ich es nicht leſen, fiel Adelheid ein, es iſt zu ſchrecklich.“ „Für den ſchönen Morgen! Sie haben Recht. Wir müſſen uns heut allein mit dem Character der Iphigenia beſchäftigen. Iphigenia iſt der leuchtende Gedanke der Verſöhnung, der in der alten Welt wie ein Strahl auf dunklem Meere erſcheint, aber er fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was die griechiſchen Dichter noch als einen Torſo hinſtell¬ ten, hat der Deutſche, der aus anderer Quelle ſein Licht ſchöpfte, zur Erſcheinung gebracht. Dieſes Atri¬ dengeſchlecht — “ „Um Gottes Willen, rief Adelheid, wie konn¬ ten die alten Dichter ſo etwas erſinnen! Sie ſagten doch, die Griechen hätten immer der Schönheit ge¬ huldigt, und ſelbſt dem Häßlichen wußten ſie eine Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht ver¬ letzte. Wie iſt es nun möglich, daß ſie ſolche Gräuel erfanden, die doch unmöglich ſind?“ „Unmöglich? fragte der Lehrer. Die erſte Ge¬ ſchichte des Hellenenthums iſt nur eine Verkörperung des Kampfes, den die Cultur mit der Barbarei ge¬ führt. Der Barbarei iſt alles möglich, und wenn der finſtre religiöſe Wahn hinzutritt, iſt ſie zu Gräueln fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Er¬ tödten wir aber die Cultur, reißen wir die edle Hu¬ manität an der Wurzel aus, welche Kunſt, Wiſſen¬ ſchaft, der Geiſt des Chriſtenthums jetzt durch Jahr¬ tauſende gepflanzt und gepflegt, ſo ſinken wir Alle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/229
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/229>, abgerufen am 29.11.2024.