Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

so zeigte sie nie die rechte Stunde an. Das käme
aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe,
große und kleine, es ginge jedes für sich, die Räder
der Minister, und kein Oberminister, der sie regulirte,
und wenn sie auch mal regulair gingen, so hätten
die Geheimen Kabinetsräthe wieder ihren aparten
Schlüssel, und die Oberpräsidenten in den Provinzen
wohl auch; und wäre mal, rara avis, alles egal und
conform, dann schöbe ein Finger von ganz oben den
Zeiger um eine Viertelstunde zurück, wodurch denn
das ganze Räderwerk in Unordnung geriethe. Das
ist nur etwas, es ist aber noch viel mehr."

Walter hatte mit steigender Verwunderung zugehört.

"Und was ich nun thue? wollen Sie fragen.
Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten,
keinem alten, nein, einem allerneuesten, den ich auf
meiner Frau Tisch fand, das ist der Herr Bürde
aus Schlesien. Da lesen Sie es:

Glücklich, wer im engbegrenzten Raume
Seiner Heimath tiefe Wurzeln schlägt,
Und, gleich einem wohlgediehnen Baume,
Fest steht, und die Aeste nur bewegt!
Der die Lebens-Nothdurft nur begehret,
Und, allein auf Gegenwart beschränkt,
Was er heut erworben, heut verzehret,
Und sich weder heftig freut noch kränkt;
Den die Welt zu sehen nicht gelüstet,
Der mit Beßrem Gutes nicht vergleicht,
Und, zur letzten Reise stets gerüstet,
Sich geräuschlos aus dem Leben schleicht

ſo zeigte ſie nie die rechte Stunde an. Das käme
aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe,
große und kleine, es ginge jedes für ſich, die Räder
der Miniſter, und kein Oberminiſter, der ſie regulirte,
und wenn ſie auch mal regulair gingen, ſo hätten
die Geheimen Kabinetsräthe wieder ihren aparten
Schlüſſel, und die Oberpräſidenten in den Provinzen
wohl auch; und wäre mal, rara avis, alles egal und
conform, dann ſchöbe ein Finger von ganz oben den
Zeiger um eine Viertelſtunde zurück, wodurch denn
das ganze Räderwerk in Unordnung geriethe. Das
iſt nur etwas, es iſt aber noch viel mehr.“

Walter hatte mit ſteigender Verwunderung zugehört.

„Und was ich nun thue? wollen Sie fragen.
Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten,
keinem alten, nein, einem allerneueſten, den ich auf
meiner Frau Tiſch fand, das iſt der Herr Bürde
aus Schleſien. Da leſen Sie es:

Glücklich, wer im engbegrenzten Raume
Seiner Heimath tiefe Wurzeln ſchlägt,
Und, gleich einem wohlgediehnen Baume,
Feſt ſteht, und die Aeſte nur bewegt!
Der die Lebens-Nothdurft nur begehret,
Und, allein auf Gegenwart beſchränkt,
Was er heut erworben, heut verzehret,
Und ſich weder heftig freut noch kränkt;
Den die Welt zu ſehen nicht gelüſtet,
Der mit Beßrem Gutes nicht vergleicht,
Und, zur letzten Reiſe ſtets gerüſtet,
Sich geräuſchlos aus dem Leben ſchleicht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="13"/>
&#x017F;o zeigte &#x017F;ie nie die rechte Stunde an. Das käme<lb/>
aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe,<lb/>
große und kleine, es ginge jedes für &#x017F;ich, die Räder<lb/>
der Mini&#x017F;ter, und kein Obermini&#x017F;ter, der &#x017F;ie regulirte,<lb/>
und wenn &#x017F;ie auch mal regulair gingen, &#x017F;o hätten<lb/>
die Geheimen Kabinetsräthe wieder ihren aparten<lb/>
Schlü&#x017F;&#x017F;el, und die Oberprä&#x017F;identen in den Provinzen<lb/>
wohl auch; und wäre mal, <hi rendition="#aq">rara avis</hi>, alles egal und<lb/>
conform, dann &#x017F;chöbe ein Finger von ganz oben den<lb/>
Zeiger um eine Viertel&#x017F;tunde zurück, wodurch denn<lb/>
das ganze Räderwerk in Unordnung geriethe. Das<lb/>
i&#x017F;t nur etwas, es i&#x017F;t aber noch viel mehr.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Walter hatte mit &#x017F;teigender Verwunderung zugehört.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und was ich nun thue? wollen Sie fragen.<lb/>
Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten,<lb/>
keinem alten, nein, einem allerneue&#x017F;ten, den ich auf<lb/>
meiner Frau Ti&#x017F;ch fand, das i&#x017F;t der Herr Bürde<lb/>
aus Schle&#x017F;ien. Da le&#x017F;en Sie es:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <lg n="1">
            <l rendition="#et">Glücklich, wer im engbegrenzten Raume</l><lb/>
            <l rendition="#et">Seiner Heimath tiefe Wurzeln &#x017F;chlägt,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Und, gleich einem wohlgediehnen Baume,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Fe&#x017F;t &#x017F;teht, und die Ae&#x017F;te nur bewegt!</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="2">
            <l rendition="#et">Der die Lebens-Nothdurft nur begehret,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Und, allein auf Gegenwart be&#x017F;chränkt,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Was er heut erworben, heut verzehret,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Und &#x017F;ich weder heftig freut noch kränkt;</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="3">
            <l rendition="#et">Den die Welt zu &#x017F;ehen nicht gelü&#x017F;tet,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Der mit Beßrem Gutes nicht vergleicht,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Und, zur letzten Rei&#x017F;e &#x017F;tets gerü&#x017F;tet,</l><lb/>
            <l rendition="#et">Sich geräu&#x017F;chlos aus dem Leben &#x017F;chleicht</l><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0023] ſo zeigte ſie nie die rechte Stunde an. Das käme aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe, große und kleine, es ginge jedes für ſich, die Räder der Miniſter, und kein Oberminiſter, der ſie regulirte, und wenn ſie auch mal regulair gingen, ſo hätten die Geheimen Kabinetsräthe wieder ihren aparten Schlüſſel, und die Oberpräſidenten in den Provinzen wohl auch; und wäre mal, rara avis, alles egal und conform, dann ſchöbe ein Finger von ganz oben den Zeiger um eine Viertelſtunde zurück, wodurch denn das ganze Räderwerk in Unordnung geriethe. Das iſt nur etwas, es iſt aber noch viel mehr.“ Walter hatte mit ſteigender Verwunderung zugehört. „Und was ich nun thue? wollen Sie fragen. Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten, keinem alten, nein, einem allerneueſten, den ich auf meiner Frau Tiſch fand, das iſt der Herr Bürde aus Schleſien. Da leſen Sie es: Glücklich, wer im engbegrenzten Raume Seiner Heimath tiefe Wurzeln ſchlägt, Und, gleich einem wohlgediehnen Baume, Feſt ſteht, und die Aeſte nur bewegt! Der die Lebens-Nothdurft nur begehret, Und, allein auf Gegenwart beſchränkt, Was er heut erworben, heut verzehret, Und ſich weder heftig freut noch kränkt; Den die Welt zu ſehen nicht gelüſtet, Der mit Beßrem Gutes nicht vergleicht, Und, zur letzten Reiſe ſtets gerüſtet, Sich geräuſchlos aus dem Leben ſchleicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/23
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/23>, abgerufen am 21.11.2024.