zu Muthe sein muß, der erfährt, daß er mit einem von der Pest Inficirten Hände geschüttelt. Nach jenem letzten Abende erschien sie mir im Traum. Ihre kostbaren Kleider fielen in Lumpen, eines nach dem andern, ihr vom Leibe. Ich schrie auf, ich floh vor dem scheußlichen Gerippe. Ich war plötzlich aus dem Bette, und es stand noch immer vor mir, ja, es dauerte eine Weile, als ich schon die Augen mit Gewalt aufgerissen hatte, bis es in den Boden versank. Was ist das? Erklären Sie's mir."
"Vielleicht die polarische Attractionskraft der Gegensätze. Wir träumen das Gegentheil von dem, was wir fühlten, dachten, erlebten, liebten. Das ist der Inhalt der Traumbücher. Die Geheimräthin ist immer sehr gewählt gekleidet, sie spricht und denkt ebenso, alles Rohe und Nackte überkleidend."
"Darum erschien sie mir roh, nackt, scheußlich! -- Wandel, ich möchte Sie einmal im Traum sehen."
Der Haushofmeister war schon eine Weile näher getreten, als er sich jetzt über den Stuhl der Fürstin neigte und einige Worte ihr in's Ohr flüsterte. Die Fürstin ließ die Arbeit sinken; sie stützte den Kopf im Arm. Die verbissenen Lippen sprachen von einer unangenehmen Nachricht. Der Haushofmeister flüsterte sie auch dem Legationsrath zu: "Er ist eben verschieden!" -- "Le pauvre diable! sprach Wandel, die Achseln zückend. Hat er noch viel gelitten? Ich meine, hat er noch wie neulich
zu Muthe ſein muß, der erfährt, daß er mit einem von der Peſt Inficirten Hände geſchüttelt. Nach jenem letzten Abende erſchien ſie mir im Traum. Ihre koſtbaren Kleider fielen in Lumpen, eines nach dem andern, ihr vom Leibe. Ich ſchrie auf, ich floh vor dem ſcheußlichen Gerippe. Ich war plötzlich aus dem Bette, und es ſtand noch immer vor mir, ja, es dauerte eine Weile, als ich ſchon die Augen mit Gewalt aufgeriſſen hatte, bis es in den Boden verſank. Was iſt das? Erklären Sie's mir.“
„Vielleicht die polariſche Attractionskraft der Gegenſätze. Wir träumen das Gegentheil von dem, was wir fühlten, dachten, erlebten, liebten. Das iſt der Inhalt der Traumbücher. Die Geheimräthin iſt immer ſehr gewählt gekleidet, ſie ſpricht und denkt ebenſo, alles Rohe und Nackte überkleidend.“
„Darum erſchien ſie mir roh, nackt, ſcheußlich! — Wandel, ich möchte Sie einmal im Traum ſehen.“
Der Haushofmeiſter war ſchon eine Weile näher getreten, als er ſich jetzt über den Stuhl der Fürſtin neigte und einige Worte ihr in's Ohr flüſterte. Die Fürſtin ließ die Arbeit ſinken; ſie ſtützte den Kopf im Arm. Die verbiſſenen Lippen ſprachen von einer unangenehmen Nachricht. Der Haushofmeiſter flüſterte ſie auch dem Legationsrath zu: „Er iſt eben verſchieden!“ — „Le pauvre diable! ſprach Wandel, die Achſeln zückend. Hat er noch viel gelitten? Ich meine, hat er noch wie neulich
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zu Muthe ſein muß, der erfährt, daß er mit einem
von der Peſt Inficirten Hände geſchüttelt. Nach
jenem letzten Abende erſchien ſie mir im Traum.
Ihre koſtbaren Kleider fielen in Lumpen, eines nach
dem andern, ihr vom Leibe. Ich ſchrie auf, ich floh
vor dem ſcheußlichen Gerippe. Ich war plötzlich aus
dem Bette, und es ſtand noch immer vor mir, ja,
es dauerte eine Weile, als ich ſchon die Augen mit
Gewalt aufgeriſſen hatte, bis es in den Boden
verſank. Was iſt das? Erklären Sie's mir.“
„Vielleicht die polariſche Attractionskraft der
Gegenſätze. Wir träumen das Gegentheil von dem,
was wir fühlten, dachten, erlebten, liebten. Das iſt
der Inhalt der Traumbücher. Die Geheimräthin iſt
immer ſehr gewählt gekleidet, ſie ſpricht und denkt
ebenſo, alles Rohe und Nackte überkleidend.“
„Darum erſchien ſie mir roh, nackt, ſcheußlich!
— Wandel, ich möchte Sie einmal im Traum
ſehen.“
Der Haushofmeiſter war ſchon eine Weile
näher getreten, als er ſich jetzt über den Stuhl der
Fürſtin neigte und einige Worte ihr in's Ohr
flüſterte. Die Fürſtin ließ die Arbeit ſinken; ſie
ſtützte den Kopf im Arm. Die verbiſſenen Lippen
ſprachen von einer unangenehmen Nachricht. Der
Haushofmeiſter flüſterte ſie auch dem Legationsrath
zu: „Er iſt eben verſchieden!“ — „Le pauvre diable!
ſprach Wandel, die Achſeln zückend. Hat er noch
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/276>, abgerufen am 27.11.2024.
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